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Hexagonale Baukonzepte in der Architektur des 20. Jahrhunderts

Obwohl in der DDR und Osteuropa qualitativ hochstehende Bauwerke realisiert wurden, sind diese Architekten und Architektinnen im Westen meist unbekannt. Diesen Zustand beklagt nicht zuletzt Karl Schlögel, der sich seit langem dafür einsetzt, dass der große Beitrag mittel- und osteuropäischer Kultur im Westen zur Kenntnis genommen wird. Das gleiche Ziel verfolgt im Bereich Architektur das Internetportal „Ostarchitektur“, die Architektur und Gestaltung städtischer Räume in Mittel- und Osteuropa dokumentiert. Einem Kleinod aus Ostdeutschland, den hexagonalen Baukonzepten des Architekten Wilhelm Ulrich (1890-1971), widmete sich Sabine Klug in ihrer Dissertation, die beim Fachbereich Kultur- und Geowissenschaften / Fach Kunstgeschichte der Universität Osnabrück 2004 eingereicht wurde und 2008 beim Verlag Georg Olms erschien.

Die politische Wende machte es möglich, dass Bauten in Mittel- und Osteuropa von Westforschern in Augenschein genommen werden konnten. Was Sabine Klug in Halle von den Bauten Wilhelm Ulrichs vorfand, muss sie wohl sehr entsetzt haben. Sie seien, so der Stand Anfang der neunziger Jahre, „gesprengt, verrottet, bis zur Unkenntlichkeit umgebaut“. Die Stadt Halle habe, so Klug in ihrer Einleitung weiter, zudem ihre Schätze ignoriert. Dem tritt die Autorin entgegen, die das außergewöhnliche Bauen des Architekten, der gegen die Vorherrschaft des rechten Winkels in der Architektur antrat, präsentiert, dokumentiert und den Spuren hexagonaler Baukonzepte in der Architektur des 20. Jahrhunderts weltweit nachging. Um die Bauten Ulrichs umfassend zu würdigen, im Anhang legt die Autorin ein erstmalig erstelltes Werkverzeichnis vor, suchte Klug über zehn Jahre lang nach Spuren in Halle und Umgebung. Im Werkverzeichnis, am Ende des Bandes, werden die Objekte, 25 an der Zahl, angeführt, beschrieben, die konkrete Adresse wie der Auftraggeber und die Seitenzahl der Abbildung im Buch ebenso genannt, wie Baudaten, bauliche Veränderungen, die heutige Nutzung und das der Beschreibung zugrundeliegende Material, Fotos, Pläne und die Fundstelle genannt.

Zunächst beginnt Klug mit einer biographische Skizze, um dann Ulrichs theoretischen Ansatz vorzustellen. Im Anschluss gibt es einen langen beschreibenden Teil einzelner Bauten, die nach Werkgruppen sortiert werden. Spannend wird es dann auch im letzten Teil, der Darstellung der Renaissance organischer Formensprache in den 1960er und 1970er Jahren.

Wie anregend die reformatorischen Bestrebungen im Umfeld der Darmstädter Künstlerkolonie Mathildenhöhe auf Ulrich gewirkt haben, arbeitet Klug deutlich heraus. Interessant dürfte auch ihr Hinweis sein, dass Ulrich, der an den Hochschulen in Darmstadt, Dresden und München Architektur studierte, in München Kontakte zum George-Kreis (gemeint ist der Kreis um den Dichter Stefan George, S.G.) knüpfte und nach diesem Vorbild einen schöngeistigen Lesekreis in Halle gründete. Nach dem Ersten Weltkrieg geht Ulrich nach Holland, es ist die Hochzeit der expressiven Architektur der Amsterdamer Schule, ehe er 1921 in das Architekturbüro seines Onkels Gustav Wolff, einem Mitglied des Werkbunds, eintrat. In Halle bleibt Ulrich bis 1951. Klug bezeichnet diese Jahre als die „fruchtbarste seines Lebens“, wenngleich Ulrich mit einigen Bauten im Heimatstil in den 1930er Jahren, Zugeständnisse an die neue politische Generallinie macht. 1951 übersiedelt er und sein Frau in seinen Heimatort Pfungstadt. In Westdeutschland gelingt Ulrich aber keine weitere Realisierung hexagonaler Bauten. Gegen Ende der biographischen Skizze ist es für Klug bedauerlich, dass Ulrich eine vorbereitete Publikation über den Sechseckbau nicht realisieren kann und dass er ein wenig den Kontakt zur jüngeren Generation der Architekten nach der Übersiedelung nach Westdeutschland verliert.

Ulrichs Bauten sind aber auch unter einem Aspekt von Bedeutung, der heute, Stichwort, Bionik, also Bauen nach dem Vorbild der Natur, breit diskutiert wird. Mit Ulrichs Interesse an organischen und anorganischen Naturformen beginnt Klug den theoretischen Teil und führt dabei interessante Aspekte aus. So kommt sie auf den „Impulsgeber“, nach Naturformen zu bauen, Ernst Haeckel zu sprechen, der seine Ansichten in „Kunstformen der Natur“ publizierte. Noch weiter zurückgehend, ruft Klug Johann Wolfgang von Goethe und Ulrich Johannes Kepler auf. Natürlich fehlt der Hinweis auf Bruno Tauts „Gläserne Kette“ ebenso wenig, wie auf den Maler Wenzel August Hablik, Hermann Finsterlin oder Rudolf Steiner. Präzise arbeitet Klug Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die den Vorstellungen der jeweiligen Protagonisten zugrunde lagen heraus und wendet sich dann praktisch-funktionalen wie ökonomischen Erwägungen beim hexagonalen Bauen zu und diskutiert wertfrei dessen Vor- und Nachteile.

Die folgenden Kapitel, vier bis acht, gelten der Vorstellung unterschiedlicher Bautypen wie Villen und Einfamilienhäuser, Kleinstwohnungen, Kirchenbauten, Kaufhäusern und Bauten für Institutionen, die Ulrich entworfen und / oder realisiert hat. Im wesentlichen beschreibend geht Klug in diesen Kapiteln vor. Damit das Material auch anschaulich wird, kann im Abbildungsteil am Ende der Publikation nachgeschlagen werden. Wie weitblickend Ulrich im Bereich Stadtplanung war, wird im neunten Kapitel deutlich, da das von ihm angedachte dreiachsige Straßensystem als dem Verkehrsfluss förderlich dargestellt wird. Auch auf die Stadtgeschichte geht Klug ein, ehe sie im zehnten Kapitel auf das „Hexagon als Architekturform“ der 1960er und 1970er Jahre kommt. Das Spektrum reicht von der organischen Formensprache von Richard Buckminster Fuller über Hans Scharouns Philharmonie in Berlin bis zur Wohnsiedlung Bijlmermeer in Amsterdam oder den Neckermann-Häusern. Auch in diesem Teil diskutiert Klug die Bauform Hexagon je nach Bautyp. Zur Karriere dieser Form trug auch eine technische Neuerung, die Entwicklung des Stahlbetons, bei, der das hexagonale Bauen kostengünstiger werden ließ, als es zu Ulrichs Zeiten möglich war. Ob nun funktional oder bautechnisch begründet, dem Hexagon haftete, so Klug, in den sechziger und siebziger Jahren eine „avantgardistische Anmutung“ an, die zur Beliebtheit in jenen Jahren beitrug.

Mit einer kurzen Zusammenfassung endet der Textteil des Buches, in dem nochmals deutlich wird, Ulrich ist vor dem Hintergrund der jeweils aktuellen architektonischen Situation in den zwanziger und in den siebziger Jahren zu sehen. Klug gelingt es, Ulrichs Vorstellungen, Entwürfe und Bauten sowohl in architektur- als auch geistesgeschichtliche Kontexte einzubetten und kenntnisreich und spannend von einem vergessenen Kapitel Architektur zu erzählen. Die Arbeit ist daher nicht nur für ein Fachpublikum interessant, sondern auch für alle an Architektur Interessierten. Immerhin ist im aktuellen Architekturführer Halle, der beim Reimer Verlag erschien, Ulrich nun namentlich genannt. Klug hat eine herausragende Dissertation geschrieben, die auch Forschern, etwa zu Stefan George, noch weitere Hinweise gibt. Ein kluges Buch von Sabine Klug, nicht nur zu Wilhelm Ulrich, sondern auch zum Sechseck in der Architektur.
16.4.2010

Sigrid Gaisreiter
Klug, Sabine: Das Ende des rechten Winkels. Wilhelm Ulrich und die exagonalen Baukonzepte in der Architektur des 20. Jahrhunderts. 2008. 476 S., 26 fb. u. 296 sw. Abb. 24 x 17 cm. (Stud. z. Kunstgesch. 175) Pp Olms Verlag, Hildesheim 2008. EUR 98,00
ISBN 3-487-13696-1
 
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