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Schnörkellos

Widerspiegelt sich im 2013 so heftig diskutierten Rückgriff auf Wilhelm Bodes Museumsinsel-Konzeption von 1904 nicht die Jahrhundertwende-Debatte zwischen Historisten und Modernisten? 1906 läßt der Liebermann-Freund und Direktor der (heute: Alten) Nationalgalerie, Hugo von Tschudi, auf Vorschlag von Peter Behrens dort Stuck und Wandmalereien verhängen - noch. Denn der bereitet auch mit seinen schmucklosen Industriebauten die hier detailliert dokumentierte faktische „Enthierarchisierung“ (Peter Mendelssohn) nicht nur Berliner gründerzeitlicher Wohnhausfassaden nach 1918 mit vor. Bruno Tauts farbig bemalte Magdeburger Hausfronten (1920) sind das vielleicht bekannteste Beispiel dieser ersten Entdekorierungsphase, die 1931 endet. Damals präsentiert Peter Behrens eine purifizierte und gleichzeitig glatte Hausfassade, ein Novum und Antizipation der Fünfziger Jahre. Dazwischen aber liegt die Zeit der „Entschandelung“ nach 1933. Nun nicht mehr in dem für den totalen Stadtumbau vorgesehenen Berlin, sondern ideologisiert-programmatisch in Land und Stadt: dort sollen Altstadt-Hausfronten, kriegsbedingt häufiger geplant als realisiert, homogen-regional (Stralsund 1936-43) und „deutsch“ (Danzig 1934-40) umgestaltet werden. Die folgende Hochzeit der Entdekorierungen (1945 bis um 1980) erweist sich so architekturhistorisch als Kontinuum und nicht, wie im allgemeinen Bewußtsein häufig verankert, als singuläre Epoche - das vielleicht wichtigste Ergebnis dieser Arbeit.

In der stadtplanerischen Trias von autogerechter Stadt und Flächenabriß scheint die Hausfassaden-Entdekorierung nun zum städtebaulichen Schnörkel zu mutieren: Bis 1980 ist, hier empirisch belegt, historistischer Fassadenschmuck im Westen und Osten Berlins an zwei Dritteln der gründerzeitlichen (1870 bis um 1900) Wohnhäuser entfernt. Ein langsamer Umdenkungsprozeß konzediert zuerst im Westen nach 1965, danach im Osten um 1975 der Stadt erste geschützte Altbau-Bereiche. Halt, Feigenblattfunktion! rufen hier die Kritiker. Unrecht haben sie nicht, gehen doch in beiden Stadthälften senatsgeförderter Altbau-Abriß und staatsgeförderter Altbau-Verfall weiter. Doch die begonnene Rehabilitierung historistischer Fassaden festigt sich und erhält durch die Wende nach 1989 einen neuen Schub. Zumal Architekten, Denkmalpfleger und Kunsthistoriker nun –endlich- den Palimpsest-Charakter historischer Substanz akzeptieren; historistische Fassaden werden rekonstruiert, auch neu gestaltet.

Warum nun aber all diese Entdekorierungen? Die überzeugenden Analysen des Autors fördern ein ganzes Motivationsbündel zutage: jeweils zeitabhängig dominierend eher ästhetische, volkspädagogische, ökonomische, zeitgenössisch-moderne, ideologische und historische Gründe. Damit läßt sich die häufig geübte monokausale Interpretationen ausschließen, die Entdekorierungen zeigten (nur) den „Haß“ auf protzige Hohlheiten der Kaiserzeit. Überzeugt diese Argumentation, so weniger die quantitative Gleichsetzung aller genannten Gründe. Denn: Werden nicht sowohl die Geschichte der Entdekorierungen als auch die Akzeptanz des Historismus konstant von Konnotationen zwischen Architektur und jeweiligem nationalem Geschichtsbild geprägt? Eine Wechselbeziehung die nicht, wie in dieser Studie, 1945 endet und so eine tabaula-rasa-Funktion dieses Jahres suggeriert, die der Autor mit der nachgewiesenen Kontinuität der Entdekorierungen zugleich negiert? Existiert denn, zum Beispiel, kein Zusammenhang zwischen der positiveren Wertung Preußens im Westen Deutschlands nach 1965, in der DDR nach 1975 und der jeweils beginnenden Akzeptanz historistischer Fassaden? Und warum kennen, von Gaertringen führt es kurz an, englischsprachige Länder solche Fassaden-Purifizierungen im 20. Jahrhundert gar nicht? Fragen, die über eine methodische Bruchstelle auf den zu ambitionierten und deshalb hier nicht ausgefüllten Themenansatz zurückverweisen, Architekturgeschichte mit Kultur- und Architektursoziologie zu verbinden. Gelungen aber ist hier, in einer exemplarischen Studie eine bisher kaum wahrgenommene architektonische Schmuckform in ihrem architekturgeschichtlichen Wandlungsprozeß deutlich zu markieren.

19.05.2013
Wolfgang Schmidt, Berlin-Friedenau
Gaertringen, Hans Georg Hiller von. Schnörkellos. Die Umgestaltung von Bauten des Historismus im Berlin des 20. JahrhundertS. Reihe Hrsg.: Landesdenkmalamt Berlin. 424 S. 250 Abb. , davon 25 fbg. 24 x 17 cm. Leinen. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2012. EUR 69,00
ISBN 978-3-7861-2650-8   [Gebr. Mann Verlag]
 
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