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Bedeutsame Belanglosigkeiten – Kleine Dinge im Stadtraum.

In Paris werden um 1830 erstmals öffentliche Toiletten installiert.
Und Paris bleibt Vorreiter in vielen dieser 22 Kapitel über Mikroarchitekturen wie Haltestellen, Objekte wie Abfallkörbe, Elemente wie Gullydeckel. Zwischen Bodenbelag und Stadtbeleuchtung angesiedelt, bestimmen sie noch heute den städtischen Aufenthaltsraum mit, ja machen ihn unverwechselbar. Und werden doch oft übersehen, kaum beachtet, gering geschätzt. Doch nun von einem architekturhistorischen Flaneur, ein literarischer war Franz Hessel, auf jeweils mehreren Kapitelseiten unter Stichworten lexikonähnlich kenntnisgesättigt semantisch, materialhistorisch und historisch beschrieben. Wobei sich zugleich Streiflichter ergeben auf die jeweilige Stadtgeschichte ergeben, auf Technikgeschichte, Industriegeschichte, Kultur- und Mediengeschichte. Dazu finden sich gelegentlich Hinweise, wie jener im Kapitel über Stadtuhren auf die zentrale Funktion des Uhrzeigers in Fritz Langs „Metropolis“ (1927). Doch müssen kultur- oder sozialhistorische Zusammenhänge bei einer Buchkonzeption marginal bleiben die sich letztlich als architekturhistorisches Nachschlagewerk erweist.

Weshalb sich Fingerzeige auf Übergreifendes erst beim genauen Lesen zu zwei historischen Spannungsbogen zusammenzufügen, auf die sich diese 22 Kapitel gründen: Den im Mittelalter verlorengegangen und erst mit der italienischen Renaissance wiederentdeckten Zugang zur antiken Stadtgestaltung (Straßen, Brunnen) und der um 1750 beginnenden Industrialisierung mit nun neuen stadträumlichen Applikationen wie der öffentlichen Beleuchtung und der Benennung von Straßen. Wenig überraschend zeigt sich hier der jeweilige technische Fortschritt spiegelbildlich zuerst in Paris oder London, dann folgen Berlin, Rom, auch Zürich, Amsterdam oder die USA.

Ein, so Lampugnani an anderer Stelle, abendländischer Blick auf westeuropäische Stadträume. Mit einer häufig negativen Sicht auf die Stadtraumgestaltung von heute, mit der fast jedes dieser 22 Kapitel abschließt. Maßstab dieser Kritik des Autors ist, idealisiert, die im Unterschied zu heute noch nicht kommerziell globalisierte Stadt des frühen 20. Jahrhunderts. Doch es wäre nicht richtig, hier auf das Diktat eines undifferenzierten Blickes zu schließen. Denn auch zeitbedingte Umnutzungen gelangen positiv in den Fokus, die ins stadträumliche Abseits geratenden Telefonzellen und Zeitungskioske, auch neu präsentierte Objekte. Dies dann wenn sie, bei allem allfälligen Kulturpessimismus, der sympathischen Sorge des Autors vor dem Verlust des städtischen Raumes als Kulturraum entgegenwirken.
So sind die historische Bedingtheit und ein sich veränderndes Weiterleben stadträumlicher Applikationen die Hauptthemen dieses Buches. Es erweitert den Blick auf unser Umfeld und fördert so das zu wenig ausgeprägte Bewußtsein dafür, daß vermeintliche Belanglosigkeiten den Stadtraum mit gestalten. Womit, digitalsprachlich formuliert, sich dies Buch auch als app zu dem Lampugnani-Klassiker „Die Stadt im 20. Jahrhundert“ (2010, zwei Bände, bei Wagenbach) verstehen läßt.

04.03.2020
Wolfgang Schmidt
Bedeutsame Belanglosigkeiten. Kleine Dinge im Stadtraum. Lampugnani, Vittorio Magnago. 2019. 192 S. 24 x 21 cm. Engl. Br. Wagenbach Verlag, Berlin 2019. EUR 30,00.
ISBN 978-3-8031-3687-9
 
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