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Staat baut Stadt – 100 Jahre Hauptstadt (Groß-)Berlin

Zunächst war ich skeptisch. 100 Jahre Groß-Berlin und 150 Jahre Hauptstadt Deutschlands auf nur 120 Seiten zusammengefasst? Zieht man den Raum für zahlreiche Illustrationen, für Anmerkungen, das Kapitel-Layout, für die Vorstellung der 11 Autorinnen und Autoren noch ab, so bleiben vielleicht noch 80 Seiten, um sich einem großen Thema einer großen Stadt zu nähern. Kann das gut gehen? Immerhin ist die Fragestellung interessant genug, sich mit ihr zu beschäftigen. „STAAT BAUT STADT“ - in diesem Buch, im Berliner Verlag Wasmuth & Zohlen erschienen, ISBN 978 3 8030 2106 9, geht es um das vielfältige und nicht immer ganz einfache Verhältnis der Stadt Berlin und ihrer Funktion als deutsche Hauptstadt. Welchen Einfluss nahmen Regierungen und Parlamente auf ihre Entwicklung? Wer prägte ihre Geschichte? Welche Entscheidungen waren langfristig wie angelegt?
Wenn man als historisch interessierter Berliner heute durch seine Stadt spaziert, und ich halte ihr immerhin schon seit 70 Jahren die Treue, dann stellt man sich solche Fragen eher selten. Die Stadt ist immer in Bewegung. An allen Ecken und Enden wird gebaut. Man freut sich über Gelungenes, wenn es denn das Stadtbild bereichert. Man ärgert sich über Belangloses, das nicht so recht zu Berlin passen will. Aber welche Idee, welcher Plan steckt dahinter? Wer hat wann und in welchem Zusammenhang die Weichen gestellt, Berlin zu dem zu machen, was es jetzt ist – die Hauptstadt eines demokratischen Deutschlands, international geachtet, bei Touristen von allen Kontinenten beliebt (wenn nicht gerade ein Virus Besucher abschreckt) und mit einer turbulenten, mitunter tragischen Geschichte, wie sie keine andere Metropole dieser Welt aufzuweisen hat. Da lohnt es sich doch, mit Hilfe dieser Publikation einmal hinter die Kulissen zu schauen!
Wenn man sich die Biographien der Mitwirkenden an dieser Publikation anschaut, fällt ein Vorzug ins Auge: Sie kommen aus der Politik, aus der Wissenschaft und aus der Praxis. Vielfältige Sichtwinkel und verschiedene Herangehensweisen sind also zu erwarten. Die Schwerpunkte ergeben sich logisch aus den aufeinander folgenden Perioden der Stadtgeschichte: Kaiserreich, Weimarer Republik, Nazizeit, Ost- und Westberlin, Vereinigte Hauptstadt, Gegenwart und Ausblick. Dabei gilt eine Prämisse über alle Zäsuren hinweg: S. 13 „Der Staat hat Berlin entscheidend geprägt.“ Sicherlich denkt man dabei zuerst an die Bauten von Regierung und Parlament, aber auch in den Bereichen des Verkehrs, des Wohnungsbaus, der Militärpräsenz hat der Staat der Kommune seine Vorstellungen und Bedürfnisse weitgehend aufgezwungen. Nach den Wünschen der Herrschenden sollten sich auch im Stadtbild Berlin die Ambitionen einer nach Weltgeltung strebenden Großmacht widerspiegeln. Allein die Pläne, Berlin in die „Welthauptstadt Germania“ umzugestalten, lassen das ganze Ausmaß größenwahnsinniger Stadtgestaltung erahnen. Der Flughafen Tempelhof, das Olympiastadion oder Görings Reichsluftfahrtministerium stehen bis heute für die monströse Architektur jener Vergangenheit. Man möchte sich gar nicht vorstellen, wie Berlin heute aussehen würde, wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte. Aber die Zeiten überdauern in ihren Bauwerken ja nur teilweise. Der grässlich-imposante Reichstag, auf dem im Mai 1945 die Rote Fahne der Sieger wehte, hat im neuen Deutschland durch die von Sir Norman Foster kreierte Glaskuppel eine Leichtigkeit und Luftigkeit bekommen, die den Charakter des ganzen Parlamentsgebäudes unserem demokratischen Gesellschaftsverständnis von Transparenz anpasste. Aber niemals war er für mich so ansehnlich wie von Christo verhüllt! Andere Symbole vergangener Zeiten wurden von den neuen Machthabern ausradiert. Auf dem Schlossplatz war das in den letzten 70 Jahren sogar zweimal zu beobachten. Ich denke da an die Sprengung des alten Hohenzollern-Schlosses und den Abriss des „Palastes der Republik“. An dieser Stelle entsteht nun eine Schloss-Kopie, die Negation der Negation sozusagen. Der Umgang mit den Hinterlassenschaften mehr oder weniger diktatorischer Perioden wird bis heute in der Öffentlichkeit wie in Expertenrunden durchaus kontrovers diskutiert. Die Teilung der Stadt in zwei Hälften, von den alliierten Siegermächten des II. Weltkrieges verwaltet, spiegelte sich zwangsläufig auch in unterschiedlichen Herangehensweisen an den Wiederaufbau nieder. Im Osten folgten die Stadtplaner zunächst dem sowjetischen Vorbild, am eindrücklichsten zu sehen in der Stalinallee, der späteren Karl-Marx-Allee. Allerdings wurde schnell klar, dass der „Zuckerbäckerstil“ zu kostenaufwendig war, und so wurde schon 1955 auf der 1. Baukonferenz die Devise ausgegeben: „Besser, schneller und billiger“ bauen. Im Westen dagegen orientierte man sich vor allem an den US-amerikanischen Architekturprinzipien von „Auflockerung und Entmischung“. So entstanden das beispielsweise das „Hansa-Viertel“ und die „Ernst-Reuter-Siedlung“, nicht zuletzt auch als moderner Gegenentwurf zum Baustil im Osten. Die Funktion Westberlins als „Schaufenster der Freiheit“ ließ die Bundesregierung in Bonn tief in die Tasche greifen. Im April 55 wurden 1,5 Milliarden D-Mark für den Wiederaufbau Westberlins bewilligt. Ostberlin verstand sich als „Hauptstadt der DDR“, Westberlin als deutsche Hauptstadt im Wartestand. Das alles wird im Buch sachlich, kenntnis- und faktenreich dargestellt, erfreulich gut lesbar und nicht trocken akademisch. Im Abschnitt über Berlin nach dem Fall der Mauer „Staat und Stadt schaffen eine neue Mitte Berlins“ werden die Autoren sogar überraschend polemisch. Sie kritisieren, dass der Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin nicht komplett vollzogen wurde. Um diesen Beschluss für Bonn „erträglich“ zu machen, blieben einzelne Ministeriums-Abteilungen am Rhein. Andere Bundesbehörden zogen sogar dorthin. Obwohl alle wichtigen Beschlüsse in Berlin fallen, bleibt der Sitz der Regierung damit zweigeteilt. Daran soll auch nicht gerüttelt werden. Entsprechende, aber erfolglos gebliebene Vorstöße der Opposition, diesen politischen, ökologischen und ökonomischen Unsinn zu überwinden, sind inzwischen eingestellt worden. Immerhin kommen die Autoren zu einer bemerkenswert deutlichen Schlussfolgerung: S. 65 „Die widersinnige Teilung der Regierungsstandorte hat sich fast 30 Jahre nach dem Hauptstadtbeschluss überlebt und sollte schnell aufgegeben werden.“ Dieser Meinung waren übrigens auch 83 Prozent der Befragten, die 2015 an einer repräsentativen Umfrage zu diesem Thema teilgenommen hatten. Sicherlich kann man sagen, dass die Regierenden derzeit ganz andere Sorgen plagen, aber eine Entscheidung für 100 Prozent Berlin als Hauptstadt bleibt überfällig, zumal man dadurch ja auch viel Geld einsparen könnte. Platz genug hätte die Metropole an der Spree zu bieten. Für die Entwicklung Berlins war der Fall der Mauer jedenfalls ein enormer Glücksfall. Viel freie Fläche stand nun zur Verfügung. Man denke nur an den Potsdamer Platz und an den Spreebogen. Besonders an letzterem, zwischen Reichstag und Hauptbahnhof ist durch das Bundeskanzleramt und zahlreiche Bürogebäude für die Abgeordneten ein auch international anerkannter Komplex entstanden, der die Exekutive und die Legislative auch räumlich in einen Zusammenhang setzt, sie miteinander korrespondieren lässt. So kommen auch die Verfasserinnen und Verfasser dieses Buches zu dem Fazit, dass die Umsetzung des Hauptstadtbeschlusses insgesamt eine große Erfolgsgeschichte war. Auf Seite 76 ist zu lesen: „Anfangs war es keineswegs selbstverständlich, dass und wie der Hauptstadtbeschluss städtebaulich in Berlins Mitte umgesetzt werden sollte. Auch wenn der Bund seine Interessen weitgehend durchsetzen konnte und die Auseinandersetzungen nicht immer einfach waren, gab es Einverständnis, die gesetzten Ziele erreichen zu wollen. Nicht nur die Gestaltung des Regierungsviertels ist gelungen, auch der Realisierungsprozess war zügig.“
Wie wir wissen, verlaufen nicht alle Bau- und Entwicklungsprozesse in und um Berlin in einem akzeptablen Tempo. Auch die Sorgenkinder vieler Alteingesessenen und Hinzugezogenen bekommen ihre eigenen Kapitel, die Neuordnung des Berliner Eisenbahnverkehrs und des Flughafensystems.

Wer in Berlin lebt, und das im Großen und Ganzen gern, der weiß: Pläne sind das Eine, ihre Umsetzung aber steht oft auf einem ganz anderen Blatt. Ich muss da oft an Bert Brechts „Dreigroschenoper“ denken, speziell an das „Lied von der Unzulänglichkeit“: „Ja mach nur einen Plan, sei nur ein großes Licht und mach dann noch `nen zweiten Plan, gehen tun sie beide nicht...“
Das Buch „Staat baut Stadt“ aber macht deutlich, dass sich das Ergebnis dann doch sehen lassen kann. Insofern empfand ich seine Lektüre als echte Bereicherung!

17.07.2020
Mathias Ehrich
Staat baut Stadt. 100 Jahre Hauptstadt (Groß-)Berlin (1920-2020) 150 Jahre Hauptstadt Deutschlands (1871-2021). Hrsg.: Bodenschatz, Harald; Hofmann, Aljoscha; Oppen, Christian von. Deutsch. 132. S. 170 Abb. 24 x 17 cm. WASMUTH & ZOHLEN Verlag, Berlin 2020. EUR 29,80.
ISBN 978-3-8030-2106-9
 
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