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Gabriel Guevrekian

Gabriel WER? Guevrekian WAS?
Ein Buch über jemanden, den keiner kennt – ist das nicht ein faszinierendes Experiment heutzutage, da der kapitalgetriebene Blockbuster-Kulturbetrieb unseren Blick immer mehr auf das Ewig-Gleiche verengt? Ich persönlich finde die Idee zunächst grundsympathisch – wobei das allein natürlich nicht ausreicht, um einem „Unbekannten“ ein ganzes Buch zu widmen.
Wer also ist Gabriel Guevrekian, dass er dieser großen, ja regelrecht monumentalen Monographie wert sei? Und: Ist er es wert?
Guevrekian (1900-1970) war eine Art „Zelig“ der modernen Architektur. Wie der Protagonist aus Woody Allens gleichnamigem Film, tauchte Guevrekian überall dort auf, wo Geschichte geschrieben wurde. Als Sproß einer armenischen Familie in Stambul geboren und Tehran aufgewachsen ging er mit 15 Jahren zu seinem Architektenonkel nach Wien, wurde fast Musiker, schrieb sich an der Kunstgewerbeschule ein, um (mit zahlreichen später bekannt gewordenen Kollegen) bei Oskar Strnad zu studieren, arbeitete bei Adolf Loos und Josef Hoffmann, übersiedelte nach dem Ersten Weltkrieg nach Paris, wo er rasch mit der gesamten Künstleravantgarde bekannt wurde, avancierte zum Büroleiter von Robert Mallet-Stevens, plante einen aufsehenerregenden (orientalisch-persischen) Schachbrettgarten für eine Villa in Südfrankreich, seine Entwürfe publizierten Gropius („Internationale Architektur“) und Giedion („Bauen in Frankreich...“), er wurde Sekretär der CIAM und war in dieser Position mit der gesamten Architekturavantgarde Europas vernetzt, ging dann 1934 auf Wunsch des neuen Pahlevi-Schahs als Chefarchitekt nach Tehran und baute zahlreiche Ministerien und Villen der upper class, übersiedelte mit Beginn des Zweiten Weltkriegs nach Südfrankreich und „überwinterte“ als Selbstversorger, das französische Wiederaufbauministerium setzte ihn 1946 als Generalplaner für den Neuaufbau von Sarrebruck (Saarbrücken) ein, wo er auch als Professor tätig wurde, ehe er Ende der 1940er Jahre nach Amerika ging, wo er fortan bis zu seiner Pensionierung an verschiedenen Universitäten eine neue Generation von Architekten ausbildete, als charismatischer, einflußreicher Lehrer.
Der iranische Forscher Hamed Khosravi reiste um die halbe Welt, den Spuren Guevrekians hinterher, um diese rasante Biographie zu rekonstruieren. Die Lektüre ist geradezu atemberaubend, denn Guevrekian ist das, was man ein „Verbindungsmann“ nennen könnte: eine Person, die künstlerisch (trotz wunderbarer Werke) zwar in der zweiten Reihe stand, organisatorisch jedoch so zentral erscheint, dass es sich lohnt, ihr Leben und Walten nachzuzeichnen.
Khosravis Text ist als offenes Kaleidoskop angelegt. Er versucht nicht, die vielen Stränge zu einem vermeintlich logischen Ganzen zusammenzuzwingen, sondern zeigt, dass es (wie in jedem Leben) lose Enden und unerfüllte Träume gibt – aber eben auch merkwürdige Zufälle und verrückte Begebenheiten. Die stellen sich vor allem immer wieder dann ein, wenn – wie Kai aus der Kiste – urplötzlich an Guevrekians Aufenthaltsorten Prominente auftauchen (nur drei Beispiele: Picasso, Moholy-Nagy, Corbusier), von denen immer wieder schnell klar wird, dass sie Guevrekian sehr innig verbunden waren. Als sich etwa Hannes Meyer 1930 aus politischen Gründen aus dem Dessauer Bauhaus verdrängt sah wandte er sich unter anderem an Guevrekian, um ihn zu fragen, ob er seine Protestkampagne gegen den Rauswurf unterstützen und in die Kollegenschaft tragen wolle.
Wer sich für die Netzwerke der Moderne, den Kulturtransfer zwischen Okzident und Orient, den „Internationalen Stil“, aber auch für die pädagogischen Aspekte der Avantgarde interessiert wird an Khosravis Buch seinen Spaß haben. Die profunde Studie ergänzt unser Wissen über die Baukunst des 20. Jahrhunderts um einen wichtigen Baustein – und hierfür ist die gewählte Form der Biographie ideal. Sie wird bereichert durch zahlreiche wunderbare Abbildungen, nicht nur von Entwürfen, sondern auch von Menschenansammlungen, in denen Guevrekian den heimlichen Mittelpunkt bildet. Das Coffeetable-Format führt dabei ein bißchen in die Irre, es wäre eigentlich – zumal Khosravis Text kurz und konzis ist – ein kompaktes Taschenbuch angemessener erschienen. Aber ein Buch ist dieser Guevrekian allemal wert – und so ist es denn auch gekommen. Wir freuen uns!

16.11.2020
Christian Welzbacher
Gabriel Guevrekian. The Elusive Modernist. Welzbacher. Hrsg.: Khosravi, Hamed; Beitr.: Khosravi, Hamed. Engl. 256 S. 70 Abb. Hatje Cantz Verlag, Berlin 2019. EUR 45,00.
ISBN 978-3-7757-4433-1
 
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