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Michelangelo und Raffael - Rivalen im Rom der Renaissance

Wer sich schon immer wünschte, daß auch die berühmtesten Kunstwerke der italienischen Renaissance endlich mal mit witzelnder Unbekümmertheit – statt im üblichen Kunsthistorikeridiom - erklärt würden, der wird von diesem Buch hellauf begeistert sein. Denn das ist der Sprachstil, mit dem es Kia Vahland unternimmt, sich den Fresken von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle und von Raffael vornehmlich in den Stanzen zu nähern. Für den Historiker hält sich der Spaß aber doch eher in Grenzen. Vor allem Michelangelos dynamischer Schöpfergott erweist sich als ein ergiebiges Objekt der, nun ja, originellen Sichtweise der Autorin. So erfahren wir, daß Gott die Welt „erfunden“ hat; er hatte auch einen Schreibtisch, benützte ihn aber offenbar nur selten: „Was macht Gott aus? Auch er ist in Bewegung. Die Welt erfand er nicht am Schreibtisch, sondern mit vollem Körpereinsatz“. Doch sogar er bedarf gelegentlich der Stütze des linken Arms durch ein Mädchen, „damit er nicht auf die Erde plumpst“ (S. 52). In der Eva-Szene mußte Gottvater „noch strammstehen“, aber dann darf er „im Zickzack über die Bildfelder fliegen“ (S. 55). Kein Wunder, daß sich die Autorin dann sogar veranlaßt sieht, von „Gottes Aktionismus“ zu sprechen (S. 59). Michelangelos Schöpfergott scheint also von seinen Aufgaben offensichtlich nicht so richtig ausgelastet zu sein.
Und die Propheten und Sibyllen? Nun, die „hatten das Pech, vor Christi Geburt zu leben, und konnten doch intellektuell an seinen Offenbarungen teilnehmen“. Die Propheten verfügen über fragwürdige Vorzüge: „Sie haben mächtige Pranken, breite Oberschenkel und Armmuskeln wie Dreikämpfer. Dabei tun sie nichts als zu lesen und zu denken“. Aber immerhin: „Lesen lohnt sich, sagen die Propheten“ (S. 37). Auch die Sibyllen geben der Autorin Gelegenheit, ihren Witz zu entfalten: „Im Blickfeld der frisch geschaffenen Eva hockt nun eine alte Dame: Äußerlich hat die Cumäische Sibylle mit der Urmutter wenig gemein; eher sieht sie aus, als habe der Maler den derbsten Schläger aus Rom gebeten, seine Schultern zu enthüllen. [...] Eva mag vom Baum der Erkenntnis genascht haben, ihre Nachfahrin könnte ihn gleich ausreißen“ (S. 45). Ein Volltreffer ist auch die Bemerkung zur römischen Pietà: „Quicklebendig schaut bald eine jugendlich schöne Maria aus dem Marmor“ (S. 75). Diese kleine Blütenlese möge genügen.
Zu seinem nicht geringen Erstaunen gewinnt der Leser den Eindruck, daß die Autorin die Räumlichkeiten, von denen sie handelt – eben die Sixtinische Kapelle und die Stanzen – gar nicht aus eigener Anschauung kennt. Das ist zwar höchst unwahrscheinlich, aber welchen Reim soll man sich sonst auf ihre Ortsbeschreibungen machen? Anläßlich der anfänglichen Probleme Michelangelos bei der Deckenausmalung mit der Freskotechnik, sagt sie, es wäre für ihn „ein Leichtes, Rat zu holen. Ein Stockwerk höher schmücken Künstlerkollegen seit Kurzem die Arbeitsräume des Papstes aus“ (S. 11). Damit sind die Stanzen gemeint, die sich demnach in einem Stockwerk über der Sixtinischen Kapelle befänden? Das scheint tatsächlich die Ansicht der Autorin zu sein, denn einer der Künstlerkollegen, der dort oben „werkelt“, ist Raffael, „eben jener Raffael, der ihm gerade über dem Schädel herumtrampelt und vergnügt seine Vorzeichnungen auf die Wände der Stanza della Segnatura überträgt“ (S. 12). Da haben die bisherigen Besucher des Vatikans offenbar etwas nicht richtig mitbekommen. Ebenso verwundert diese Behauptung: „Die berühmteste antike Statue von Apoll steht jetzt im Belvedere-Hof unter dem Fenster der Stanza della Segnatura“ (S. 120). Es scheint wohl auch keinen Lektor in diesem renommierten Verlag gegeben zu haben, der nur ein klein wenig die vatikanischen Örtlichkeiten kennt.
Nicht größer ist aber der Wahrheitsgehalt der angeblichen Rivalität zwischen Michelangelo und Raffael, der das Buch in erster Linie gewidmet ist. Es geht dabei weniger darum, daß Raffael zum eigenen künstlerischen Gewinn einen Blick auf die Werke Michelangelos geworfen hat, so oft er nur konnte, und versucht hat, „sich dann seine Idee zu krallen“ (S. 12), aber das kann man vielleicht, wie die Autorin, als „Werkspionage“ (S. 48) bezeichnen, das erfüllt kaum den Tatbestand der Rivalität. Was die Autorin in erster Linie im Sinne hat, ist vielmehr die Intrige, die Bramante, der Freund Raffaels, eingefädelt haben soll, um Michelangelo vom Grabmalprojekt für Papst Julius II. abzubringen und ihm stattdessen die Sixtinische Decke zu übertragen, in der Hoffnung, daß er, der Bildhauer, bei diesem monumentalen Gemäldeprojekt kläglich scheitern werde (S. 14 ff.). Michelangelo sei sich sicher gewesen, „dass Bramante und Raffael ihn vernichten wollten“ (S. 16). Es trifft zwar zu, daß die beiden zeitgenössischen Michelangelo-Biographen, Condivi und Vasari, von einer solchen Intrige berichten, worauf sich die Autorin beruft, aber schon lange ist erwiesen, daß es sich dabei um eine späte Erfindung Michelangelos handelt, mit der er die Absicht verfolgte, die Ansprüche der Erben Papst Julius’ II. abzuwehren, die Michelangelo beschuldigten, Geld für das Grabmal erhalten zu haben, ohne entsprechende Leistungen zu erbringen. Da schien es nahezuliegen, Bramante die Schuld am Aufschub des Grabmalprojektes zugunsten der Deckenausmalung anzulasten.
In der ersten, 1550 erschienen Ausgabe der „Viten“ weiß Vasari noch nichts von einer solchen Intrige gegen Michelangelo, im Gegenteil er schildert ein gutes Verhältnis zwischen Bramante und Michelangelo. Erst durch Condivis Michelangelo-Vita sieht sich Vasari in der zweiten Auflage seiner Lebensbeschreibungen veranlaßt, diese Geschichte zu übernehmen. Kia Vahland unterschlägt einfach, was der seit langem bekannte, tatsächliche Anlaß für den Auftrag an Michelangelo war, die Sixtinische Decke auszumalen. Im Frühjahr 1504 tat sich ein gewaltiger Riß im Gewölbe der Sixtinischen Kapelle auf, der die Kapelle zeitweilig unbenutzbar machte. Nach der Behebung der Bauschäden (die durch den ungünstigen Untergrund verursacht waren) wurde eine neue Ausmalung der Decke erforderlich. Dafür hat Bramante Michelangelo vorgeschlagen, der in seinen Augen der einzige war, der für eine solche Aufgabe in Frage kam. Bramante, von Haus aus selbst Maler, war mit dem Neubau der Peterskirche beschäftigt, und von Raffael war damals noch keine Rede. Die notwendig gewordene Neugestaltung der Decke ist der eigentliche Grund, weswegen das Grabmal-Projekt zurückgestellt wurde. Michelangelo war natürlich nicht begeistert, er versuchte, sich diesem Auftrag zu entziehen, aber der Papst bestand darauf, daß er die Decke ausmalte, und so geschah es schließlich.
Als ein Zeichen des damals herrschenden guten Verhältnisses zwischen Bramante und Michelangelo wird sicher zu recht die Tatsache angesehen, daß Michelangelo den Propheten Joel an der Sixtinischen Decke mit den Zügen Bramantes dargestellt hat. Bramante revanchierte sich sozusagen, indem er wohl seinen Freund Raffael veranlaßte, in die „Schule von Athen“ nachträglich den Philosophen Heraklit mit den Zügen Michelangelos einzufügen. Die Autorin sieht in Heraklit ebenfalls eine Darstellung Michelangelos, aber sie vermutet ein gehässiges Motiv seitens Raffaels: „Einen Kollegenhasser und Verweigerer“ habe er gemalt. „So sieht ihn sein Rivale: den armen, unglücklichen, hochgelobten Michelangelo“ (S. 66). Alle Philosophen und Gelehrten der „Schule von Athen“ pflegen den Austausch und das Gespräch, allein Michelangelo sei einsam: „der Grobian soll nur sehen, was er verpaßt“ (S. 117). An anderer Stelle meint sie sogar, Michelangelo als „Haudegen“ bezeichnen zu sollen! (S. 93). So kann man eine vermeintliche Rivalität sehr schön verbal anheizen.
Es gibt nicht den geringsten Grund, Condivi und Vasari bezüglich der Behauptung zu folgen, daß Raffael die Absicht gehabt hätte, wenn er schon nicht von Anfang an zum Zuge gekommen ist, nun nach der Enthüllung der ersten Hälfte der Sixtinischen Decke Michelangelo zu verdrängen und den Rest selbst auszumalen. Die Autorin hält diese plumpen Legenden aber offenbar für bare Münze (S. 18, 54, 123). Raffael war bekanntlich in all den Jahren vollauf mit den Stanzen beschäftigt (- nur unter bestimmten politischen Umständen „kann Raffael nicht weiter seine Friedensverspechen an die Wände pinseln“, wie sie sagt, S. 127). Und der Papst wußte natürlich, was er an Michelangelo hatte. Die bloße Annahme, daß er ihn aus dem Deckenprojekt hätte entlassen wollen, ist abwegig.
Kia Vahland gibt sich vollkommen bewußt, daß Vasari „und seine Autorenkollegen“ kaum eine Gelegenheit ausgelassen haben, ihre Berichte mit Legenden und Anekdoten auszuschmücken, die einer Überprüfung nicht standhalten (S. 87 f.). Umso mehr verwundert es, daß sie völlig unkritisch die längst widerlegte Geschichte von der Mißgunst Bramantes und Raffaels als Anlaß des Auftrags an Michelangelo für die Sixtinische Decke nicht nur übernimmt, sondern genüßlich ausbreitet. Bedarf es wirklich der Schilderung einer existenzbedrohenden Künstlerintrige, um das Interesse an der Kunst der Renaissance in Rom zu wecken?
Die Autorin wartet aber auch noch mit einer anderen spektakulären Neuigkeit auf. Wie sie schreibt, habe sich Julius II. gewünscht, daß sein Grabmal „nun in der Kapelle errichtet wird, als Gesamtkunstwerk aus Michelangelos Hand“ (S. 65). Mit der Kapelle ist natürlich die Sixtinische Kapelle gemeint und hier soll ein Grabmal errichtet werden? Wenn sich die Autorin ausreichend über die Funktionen dieser Kapelle informiert hätte, wäre sie auf eine solche abwegige Idee sicher nicht gekommen.
Es soll aber nicht übergangen werden, wie sich Kia Vahland zu den inhaltlichen Zielen äußert, die Michelangelo mit seiner Deckenmalerei verfolgt habe: „Den durch die Kapelle schlendernden Gläubigen aber wird sich die Decke in aller Vielfalt offenbaren. Michelangelo denkt nicht an jene traditionellen Hierarchien des Jenseits, in denen biblische Gestalten und Heilige in Rängen gestaffelt sind. Ihm schwebt ein spielerisches Miteinander der Menschen vor, sie sollen einander inspirieren und über mehrere Felder hinweg kommunizieren“ (S. 26). Michelangelo war seiner Zeit also schon weit voraus! Und zwar um recht genau fünfhundert Jahre.

11.03.2013
Volker Herzner
Vahland, Kia. Michelangelo & Raffael. Rivalen im Rom der Renaissance. 224 S., 50 z. T. fb. Abb., Gb. C. H. Beck Verlag, München 2012. EUR 22,95 CHF 34,90
ISBN 978-3-406-63993-7   [C. H. Beck]
 
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