KunstbuchAnzeiger - Kunst, Architektur, Fotografie, Design Anzeige Verlag Langewiesche Königstein | Blaue Bücher
[Home] [Epochen] [Rezensionen] [Druckansicht]
Themen
Recherche
Service

[zurück]

Adolph Menzel - Auf der Suche nach der Wirklichkeit

Der Kunsthistoriker Werner Busch legt zum 200. Geburtstag Adolph Menzels einen grandiosen Bildband zu dessen Leben und Werk vor. Der Untertitel verrät es: Dreh- und Angelpunkt des Buches ist die Wirklichkeit bzw. die Suche danach. Dies kann sowohl die Suche des Künstlers nach der Wirklichkeit bezeichnen als auch die der Rezipierenden nach dem Wirklichen in Menzels Arbeiten. Misst man die Wirklichkeit an Darstellungen des Alltäglichen, so wird man bei Menzel schnell fündig. Geradezu besessen von seiner Umgebung war Menzel notorisch am Zeichnen, Beobachten, Festhalten: Neben 7000 Zeichnungen im Berliner Kupferstichkabinett ist sprechender Beweis für seine Zeichenwut Jacob Hilsdorfs Fotografie, die 1904 entstand und die Menzel beim Skizzieren zeigt. Mit solch bienenfleißigem Habitus kann man sich die Leute vom Hals halten, und daran scheint dem Kleinwüchsigen sehr gelegen zu haben ...

Als Sohn eines Lithographen in Breslau geboren arbeitete Adolph Menzel seit seinem 13. Lebensjahr als Gebrauchsgraphiker. Nach dem Umzug 1830 nach Berlin und dem Tod seines Vaters 1832 ist der künstlerisch hochbegabte Epileptiker als Sechzehnjähriger bereits Familienoberhaupt: Mit der väterlichen Lithographenwerkstatt kann er die Mutter, Schwester Emilie und Bruder Richard ernähren. Die Graphik der künstlerischen Anfangszeit schärft seinen Blick, schafft ihm ein Publikum und bereitet ihn auf die Werke vor, die in den Kanon der Menzel-Rezeption gehören. Mit den in den Jahren 1839 bis 1842 entstandenen Illustrationen zu Franz Kuglers Geschichte Friedrichs des Großen prägt er sein Friedrich-Bild, das er nach gründlichen Studien "gegen den Strich" und gegen herrschende Erwartung modifiziert; nicht nur das: Er identifiziert sich stark mit ihm, sieht Friedrich wie sich selbst als "Außenseiter, die sich beide ihr Leben lang fremd in der Gesellschaft" fühlten. Gemeinsam ist beiden auch ihr enges Verhältnis zur Schwester: Friedrichs zu Wilhelmine, Markgräfin von Bayreuth, Menzels zu Emilie, die das Modell in Menzels "Flötenkonzert" für Friedrichs Schwester ist. Von Friedrich dem Großen kann Menzel lange nicht lassen und malt von ihm eine Reihe großformatiger Historienbilder. Heute weltberühmt, taugen sie zu ihrer Zeit nicht zur Verherrlichung der Hohenzollern-Dynastie und stoßen bei Friedrich Wilhelm IV. auf Ablehnung. Menzels "Ansprache Friedrichs des Großen an seine Generale vor der Schlacht bei Leuthen 1757" (1859 bis 1861) hinterlässt Menzel "als große Ruine unvollendet" - so oder so ein gigantischer Eindruck, vielleicht noch gigantischer durch die weißen Leerstellen, was jede/r bezeugen kann, wer schon davorgestanden hat. 1863 stellt er alle seine Friedrich-Arbeiten aus, ein großer Misserfolg, der dazu führt, dass er aus Frust mit dem Schabmesser an manche Generalsgesichter des Leuthen-Bildes geht; die Spuren sind bis auf den heutigen Tag sichtbar.

"Malen ist Aneignung und Distanzierung zugleich", schreibt der Autor, was vor allem auf Menzels Ölskizzen, eigentlich Malübungen, nach 1844 zutrifft und die heute als "protoimpressionistisch" gelten. Die berühmteste ist das "Balkonzimmer" (1845), eine menschenleere Idylle, das auf den zweiten Blick Rätsel aufgibt: Wo steht der Maler? Was befindet sich in der linken Bildhälfte? Wo hängt das Bild, das im Spiegel zu erkennen ist? Auch im "Wohnzimmer mit der Schwester des Künstlers" (1847) geht es nicht nur um häusliche Gemütlichkeit: Die Frau, die im Mittelgrund am Tisch sitzt, darf man als Menzels Mutter ansprechen; der schwebende Engel über ihr verweist jedoch darauf, dass sie zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr gelebt haben dürfte.

In seiner Beschäftigung mit der Wirklichkeit zeigt Menzel keine Scheu vor Hässlichem. Daher eignet er sich auch die Fensterausblicke und Hinterhofansichten seiner diversen Wohnungen künstlerisch an, die selten schön sind, sondern den Charakter des Übergangs zeigen: Unschönheit, Ungepflegtheit, Wildwuchs, Verfall, Chaos. Auch das Phänomen Abriss und Neubau fasziniert ihn. Busch schreibt hierzu: "Gerüste tauchen bei Menzel ohn Unterlass auf. Sie stehen für permanente städtische Erweiterung und unaufhaltsamen Wandel, zudem für gesellschaftlichen Umbruch, aber auch für die Labilität der Verhältnise. Sie zeigen, wer den Wandel bewirkt: die arbeitende Bevölkerung, ohne dass sie an den Segnungen des Wandels teilhätte. Menzel solidarisiert sich durchaus mit ihr, denn auch sich selbst begreift er in erster Linie als Arbeiter." Diesen Arbeitern gibt er Gesichter, etwa auf seinem Bild "Maurer auf dem Bau" (1875) und vor allem in seinem großartigen "Eisenwalzwerk" (1872 bis 1875).

Aber Massenszenen wie sein "Eisenwalzwerk", die "Piazza de Erbe in Verona" (1882 bis 1884) und "Pariser Wochentag" (1869) haben für ihn noch eine andere Komponente, nämlich die der nahenden Katastrophe im Menschengewimmel, vor der er sich als Kleinwüchsiger fürchtet - was keine Interpretation ist, sondern vom Künstler schriftlich bezeugt wird. 1872 war er nach Königshütte in Oberschlesien gefahren, um in der Vereinigten Königs- und Laurahütte Vorstudien zu seinem Walzwerk-Bild zu machen; er berichtet: "Ich schwebte dabei in steter Gefahr gewissermaßen mit verwalzt zu werden. Wochenlang von morgens bis abends habe ich da zwischen den sausenden Riesenschwungrädern und Bändern und glühenden Blöcken gestanden und skizziert." Also auch hier: "Malen ist Aneignung und Distanzierung zugleich", und darüber hinaus: Bewältigung.

Das mag auch für seine erschütternden Aquarelle sterbender und toter Soldaten der Schlacht bei Königgrätz von 1866 gelten, die so wirklich sind, dass es schmerzt ...

29.10.2015
Daniela Maria Ziegler
Adolph Menzel. Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Busch, Werner. 320 S. 150 Abb. 31 x 26 cm. Gb. C. H. Beck Verlag, München 2015. EUR 58,00. CHF 81,90.
ISBN 978-3-406-68090-8   [C. H. Beck]
 
© 2003 Verlag Langewiesche [Impressum] [Nutzungsbedingungen]