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Die Sixtinische Decke – warum Michelangelo malen durfte, was er wollte

Michelangelos Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle zählt zu den bedeutendsten Werken der europäischen Kunstgeschichte. Goethes vielzitierter Satz, „Ohne die Sixtinische Kapelle gesehen zu haben, kann man sich keinen anschauenden Begriff machen, was ein Mensch vermag“, gilt auch heute. Die kunsthistorischen Interpreten, die sich mit diesem Werk auseinandergesetzt haben, sind inzwischen unüberschaubar. Auffällig ist, wie häufig dabei philosophische Theorien oder theologische Konzepte an Michelangelos Darstellungen herangetragen wurden, ohne zu beachten, ob seine bildlichen Formulierungen mit den unterstellten Prämissen übereinstimmen. Dass ein vorurteilsfreier und genauer Blick auf Michelangelos Meisterwerk auch heute ergiebig ist und neuen Erkenntnissen Raum geben kann, beweist die vorliegende Untersuchung.

Akribisch listet Volker Herzner seine neuen Thesen auf. Zunächst geht es um den Auftrag, den Programmentwurf des Papstes und das, was Michelangelo verwirklichen wollte. Zum Verständnis des Lesers – der allerdings als Laie viel Lesegeduld mitbringen sollte, die sich aber durchaus lohnt – und der komplizierten Begründung des Autors für seine neuerlichen Thesen geschuldet folgen ausführliche Kapitel zum Genesis-Zyklus, den Propheten und Sibyllen sowie den Vorfahren Christi. Im Genesis-Kapitel geht es von der Erschaffung der Welt bis zu Noah und der Wein. Besonders kompliziert wird es für den nichtwissenschaftlichen Leser bei den Abhandlungen über die Propheten und Sibyllen, bis zur ehernen Schlange und der Frage, ob die vier Errettungen (David, Judith, Esther und, im Namen der Schlange, Moses) eine „eigentliche geistliche“ Bedeutung haben.

Michelangelos Darstellungen der Schöpfungsakte als machtvolle körperliche Aktionen stehen in eklatantem Widerspruch zum christlichen Glauben, wonach die Schöpfung aus dem Wort Gottes erfolgte, folgert der Autor aus seinen Untersuchungen. Michelangelo ließ sich aber nicht von häretischen Vorstellungen leiten; ihm sei es vielmehr darum gegangen, den philosophischen und theologischen Bestrebungen seiner Zeit eine kategorische Absage zu erteilen, eine Absage an jene, die den Menschen als fähig ansahen, in der Selbstvervollkommnung gottgleich werden zu können.

Michelangelo stellte deshalb Gott in überwältigender Allmacht dar, so dass er kein Ziel hochgreifender menschlicher Ambitionen sein kann. Jede derartige Bemühung hielt Michelangelo, von Jugend an ein Gefolgsmann des strengen Kirchenreformers Savonarola, aus christlicher Sicht für sündhaft. Deshalb räumte er auch – ganz unzeitgemäß – dem Sündenfall einen Platz in der Mitte der Sixtinischen Decke ein. In Papst Julius II. fand Michelangelo volle Unterstützung für sein eigenwilliges Projekt.

Wie eigenwillig Michelangelo sein Werk gestaltete wird noch einmal am Ende, im Kapitel „Die Ignudi“ deutlich, worin es um die schönen nackten Jünglinge geht, die oberhalb des Gesimses dargestellt sind, das am Gewölbe die Propheten und Sibyllen von den Genesis-Szenen trennt. Für Herzner besteht kein Zweifel: die Ignudi haben nichts mit Theologie zu tun, sondern sind Michelangelos „stürmischem Herrn“, Papst Julius II., gezollt, dessen homoerotische Beziehung zum Kardinal Francesco Alidosi, dem „Ganymed des Papstes“ als erwiesen gilt.
Welche Neigungen dieser Art Michelangelo selbst pflegte bleibt am Ende offen, doch steht in diesem Zusammenhang die Sündhaftigkeit des Menschen, in diesem Fall in Michelangelos Malereien in der Sixtinischen Kapelle, im Mittelpunkt.

Die Sixtinische Decke, verbunden mit den Befunden Volker Herzners, warum Michelangelo malen durfte, was er wollte, ist ein spannendes Werk über ein faszinierendes Gemälde, das die Gemüter der Welt noch lange in Atem halten wird. Schade ist allerdings, oder besser, wünschenswert wäre es, wenn diese sehr wissenschaftlich formulierte Arbeit irgendwann einmal in populärer Form herausgebracht würde. Für eine breite Leserschaft wäre das sicherlich sinnvoll.

08.01.2016
Gabriele Klempert
Die Sixtinische Decke - warum Michelangelo malen durfte, was er wollte. Herzner, Volker . Studien zur Kunstgeschichte (205). 2015. 354 S. 60 Abb. 24 x 17 cm. Gb. Olms Verlag, Hildesheim 2015. EUR 58,00.
ISBN 978-3-487-15229-5   [Olms]
 
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