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Der Codex Manesse

In der kleinen, aber sehr feinen Reihe C.H.Beck Wissen widmet sich die Literaturwissenschaftlerin Anna Kathrin Bleuler dem Codex Manesse oder der Großen Heidelberger bzw. der Manesse`schen Liederhandschrift, die zum Heidelberg-Kanon gehört wie Schloss, Alte Brücke und die ehrwürdige Ruperto Carola - den Homo Heidelbergensis nicht zu vergessen. Das umfangreichste und prächtigste erhaltene (!) Liederbuch des Mittelalters ist zwischen ca. 1300 und ca. 1340 in Zürich angefertigt worden und enthält 137 Miniaturen sowie mittelhochdeutsche Gedichte von 140 Dichtern - von denen der bekannteste Herr Walther von der Vogelweide sein dürfte. Gehütet wird die sieben Kilo schwere Kostbarkeit unter sorgfältiger Klimatisierung in der Universitätsbibliothek Heidelberg; seit kurzem kann man Bilder wie Texte auf http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848 anschauen.

Auf nur 118 Seiten macht uns Bleuler, Professorin für Deutsche Sprache und Literatur des Mittelalters in Salzburg, mit der umfangreichen Forschungs- und Rezeptionsgeschichte des einzigartigen Liederbuches vertraut. Ein selbstloses Projekt reicher Mäzene sei die Herstellung des Buches nicht gewesen, sondern innerhalb miteinander konkurrierender Züricher Patrizierfamilien hätten sich die Manesses damit selbst ein Denkmal gesetzt. Entsprechend singt der Dichter Johannes Hadlaub (Bl. 372r), von dem 51 Lieder und 3 Texte im Codex enthalten sind, das Lob von Rüdiger und Johannes Manesse: "Gegen seinen (des Herrn Manesse, d.R.) verneige sich die Sängerschar, / seinen Ruhm zu begründen hier und anderswo. / Denn dort stehen Baum und Wurzeln des Gesangs." Nach Heidelberg war der Codex an den Kurfürsten Friedrich IV. gelangt, der es zwischen 1607 und 1612 besaß, danach gehörte es der Königlichen Bibliothek in Paris. Erst 1888 kehrte es nach langen Verhandlungen zwischen Frankreich und Deutschland wieder nach Heidelberg zurück. Gottfried Keller hat 1877 die Novelle "Hadlaub" verfasst, in der er den Laudator der Familie Manesse zur Hauptfigur macht.

Am Bildschirm im Codex Manesse zu blättern, empfiehlt sich unbedingt, da man dort auch die unbekannteren Autorenbilder sehen kann, nicht nur die weithin bekannten wie das liebenswert schöne Bild des in sich versunkenen Herrn Walther von der Vogelweide, der vornehm und mit Anstand in ein blaues Gewand gekleidet ein Bild mittelalterlicher Kontemplation darstellt. Bei den den Texten vorgeschalteten Autorenbildern des Codex handelt es sich um keine echten Porträts nach unserem Verständnis, auch die gezeigten Szenen können und sollen nicht immer realistisch verstanden werden. Was uns jedoch hier auf Pergament in bunten Deckfarben begegnet, bildet einen unterhaltsamen Querschnitt höfischen Lebens. Der Bildraum ist kanonisiert, auch die Namens-Überschriften der Autorenbilder sind einheitlich, nur die Rahmung der Szenen reicht von angedeuteter Architektur bis zu einfachen, aber unterschiedlich ausgeführten dreifarbigen Leisten. Die Namen der Maler selbst sind vergessen, die Wissenschaft konnte aber durch Vergleiche verschiedene "Hände" ausmachen: Der sogenannte "Grundstockmaler" hat 110 Bilder gemalt, 27 Bilder sind von drei Nachtragsmalern gemalt worden. Zum Stil der anmutigen, lächelnden Figuren meint Gottfried Keller: "... es ist merkwürdig, wie diese ganze Bildwelt, gleich archaistischen Werken des frühen Altertums, ein ewig heiteres, lächelndes Wesen zeigt ...", womit er einen treffenden Vergleich zu frühgriechischen Statuen mit dem sog. archaischen Lächeln zieht. Auffällig auf den Autorenbildern ist außerdem ein leeres weißes Schriftband, das mitunter bis zum Bildhimmel steigt; es fungiert als Attribut des Autors oder, wenn ein Gegenüber mit abgebildet ist, als "Signum der Mündlichkeit". Das heißt, dass der Dichter - ähnlich wie in der klassischen Antike - nicht nur dichtete, sondern auch sang, komponierte und ein Instrument spielte.

Die Reihenfolge der Autoren und ihrer Texte folgt der gesellschaftlichen Hierarchie: Ganz am Anfang thront König Heinrich in frontaler Herrscherdarstellung, "im vollen Ornat, nach einem älteren Vorbilde überlieferungsweise gemacht", so Keller. Seine Persönlichkeit scheint ausreichend durch Schwert, Wappen, Szepter und weißem Schriftband charakterisiert zu sein, wobei das Schwert an der Seite steht. Auch Wachsmut von Künzingen (160v) tritt uns in wuchtigem Frontalbild eines Pferdes mit Reiter entgegen, links und rechts steigen zwei Hunde am Bildrand empor und schauen aufeinander zurück. Der Reiter hat das Visier herabgelassen, Schild, Standarte und Helm sind mit zwei großen Fischen geziert. Den Herrn Goesli von Ebenheim (197v) gar sieht man im Tjost auf einen Gegner zuspringen, auf der oberen Bildebene schauen Frauen und Musikanten dem rabiaten Treiben zu, eine davon hebt innerlich beteiligt wie erschrocken die Hände zum Kopf. Friedlich und beschaulich hingegen wirkt das Autorenbild des Schulmeisters von Eßlingen (292v) mit einer Schulszene: Der groß dargestellte Lehrer am Pult unter angedeuteter Architektur ist der Autor selbst, klein (und unbedeutend) dargestellt sind Schüler.

Ganz anders hingegen sind die höfischen Minnedarstellungen verliebter Paare eines Albrecht von Johannsdorf, Heinrich von Morungen oder Reinmar von Hagenau! Wobei die minnigliche Frouwe auch nicht immer so wollte wie der adlige Herr, wie Text und Autorenbild des Rudolf von Stadeck (257r) zeigen: Da strebt die Frau mit erhobenen, wie abwehrenden Armen zum rechten Bildrand, während der Liebhaber sie zurückhalten will, indem er sie an Haar und Kinn festhält. Rudolf von Stadeck schreibt: "In der Art, wie Ihr mich plagt, könntet Ihr einen unverständigen Menschen dazu bringen, dass er seine gute Erziehung vergisst und sich in höchst unfeiner Weise an Euch rächt." Auf dem Bild scheint der Text schon Wirklichkeit geworden zu sein ...

05.06.2018
Daniela Maria Ziegler
Der Codex Manesse. Geschichte, Bilder, Lieder. Bleuler, Anna Kathrin. 128 S. 17 meist fb. Abb. 18 x 12 cm. Kt. C.H. Beck Verlag, München 2018. EUR 9,95.
ISBN 978-3-406-72134-2   [C. H. Beck]
 
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