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Raffaels Selbstdarstellung – Künstlerschaft als Konstrukt

Raffael überragt drei Jahrhunderte Kunstgeschichte – kein zweiter Künstler wird zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert so sehr zum Vorbild gewählt und empfohlen, wird so regelmäßig hymnisch gefeiert, gilt so sehr als künstlerisches und auch als soziales Leitbild.
Hier setzt Fabian Müller mit seiner Dissertation zu „Raffaels Selbstdarstellung“ an – denn obgleich Raffael in den letzten Jahren stärker in den Fokus der Forschung geraten ist, so ist ein Aspekt, der ganz entscheidenden Anteil an dessen lang währenden Erfolg hat, bislang erstaunlich offen geblieben: Wie hat Raffael zu seinen Lebzeiten aktiv seinen künstlerischen und sozialen Status befördert, wie hat er sein Selbstbild als Künstler formuliert, gibt es gar ein Programm der Selbstdarstellung, das er entwirft, und wie hat er es seinen Zeitgenossen kommuniziert? Nichts weniger als das Nachholen einer „Darstellung von Raffaels Künstlerschaft in toto, eine Betrachtung der Entwicklung seines künstlerischen Selbstverständnisses, [...] eine Untersuchung eigenreferenzieller Aspekte seiner Kunstwerke vor dem Hintergrund eines systematischen künstlerischen Selbstentwurfs“ (S. 12) setzt sich Müller daher als Ziel. Sein souveräner Überblick der bekannten Forschungsliteratur ist dabei häufig zu spüren, ebenso wie die tiefgehende Kenntnis der humanistischen Literatur des 15. und 16. Jahrhunderts. Freilich sieht er es als die wichtigste Leistung an, Raffaels Selbstbild aus seinen Kunstwerken heraus lesen zu können. Frei nach dem Motto, dass jeder Künstler sich selbst male – mit „Ogni Pittore dipinge sè“ ist denn auch das Fazit ziehende letzte Kapitel überschrieben – untersucht Müller „ausgewählte Werke Raffaels auf ihren eigenreferenziellen Gehalt hin“ und betont: „Die untersuchten Gemälden dienen dabei nicht der Illustration einer übergeordneten These oder als bemühtes Indiz, sondern: die These soll aus den Bildern heraus begründet und an diesen entlang entwickelt werden.“ (S. 16)

Dieser Ansatz verspricht deshalb neue Erkenntnisse, da Forscher sich lange nur an den schriftlichen Selbstaussagen Raffaels halten wollten – und die sind rar. Um das Versprechen einzulösen, wählt Müller als Gegenstand einige der wichtigsten Kunstwerke von Raffael aus, und am ehesten gelingt ihm dies bei der „Transfiguration Christi“ (Rom, Pinacoteca Vaticana), der „Fornarina“ (Rom, Palazzo Borghese) und dem sogenannten „Selbstbildnis mit einem Edelmann“ (Paris, Musée du Louvre). Die „Transfiguration“ untersucht er konzentriert hinsichtlich ihres paragonalen Gehalts, der literarisch gut belegt ist und den er um einige Bildbeobachtungen ergänzen kann, so die Verweise auf Michelangelos Kunst in den Figuren der unteren Bildhälfte. Die „Fornarina“ konnte nie überzeugend als Porträt der vermeintlichen Geliebten Raffaels, eben jener Bäckerstochter, gedeutet werden, umso schlüssiger ist Müllers Umdeutung zu einer Muse, einer Allegorie der Kunst, die dann auch sinnfällig macht, warum sich Raffael auf ihrem Armband so prominent mit seiner Signatur verewigt hat. In dem „Selbstbildnis mit einem Edelmann“ denkt Müller erfrischend quer gegen den Strich, indem er die nie geklärte Identifikation des Begleiters von Raffael aufgibt und aus ihm eine allegorische Figur macht, um damit insgesamt eine Selbstaussage Raffaels über seine Kunst abzuleiten. Ob dies nun so weit geht, dass Raffael mit Rückgriff auf Cristofero Landino „vita activa“ und „vita contemplativa“ gegenüberstellte, mag fraglich sein, aber der Ansatz öffnet neue Deutungshorizonte.

Dabei benutzt Müller häufig den Begriff des ‚Dissimulativen‘ – also des Nicht-Offensichtlichen, des Verbergens und Verschleierns. Damit erklärt er zum Beispiel, dass Raffael sich in dem „Selbstbildnis mit Edelmann“ eben keine Attribute der Malerei beigegeben hat, sondern die Malerei ist gewissermaßen passiv vorhanden, „durch das Bild als mediale Allusion auf das Kunstschaffen selbst“ (S. 109). Das gleiche gilt für ein als „Selbstbildnis als Künstler-Hofmann“ gedeutetes, heute verschollenes Porträt (ehemals in Krakau, Czartoryski-Museum). Ob dies überhaupt ein Selbstbildnis ist, eine lange umstrittene These, will Müller auch gar nicht auflösen, denn bei ihm wird das Bild stattdessen zu einem Typus, einer künstlerisch-professionellen Selbstdarstellung Raffaels, einem Alter Ego. Das führt aber zu einer Argumentation, nach der jedes Porträt eines schönen jungen Mannes aus Raffaels Hand in graziler Pose zugleich immer eine professionelle Selbstdarstellung Raffaels sein könnte – wenn sich der Künstler stets selbst malt, ist dies nur konsequent, führt aber zu kaum haltbaren Verallgemeinerungen. Auch prinzipiell wertvolle Bildvergleiche werden mehr als ausgereizt – die Haltung in dem Czartoryski-Selbstbildnis soll an die Statue des „Satyr anapaumenos“ erinnern, ob dies aber dann in jedem der zahlreichen, auf drei Seiten erörterten Paragone-Aspekte münden muss (S. 95–97), die Raffael also alle intendiert und ein idealer Betrachter alle gesehen haben soll, ist recht fraglich. Und sind nicht-dissimulative Bildvergleiche, also Vergleiche, die sich auf eine offensichtliche visuelle Übereinstimmung stützen, überhaupt gestattet in einer dissimulativen Selbstdarstellung? Widerspricht sich nicht die Suche nach dem Dissimulativen einerseits und andererseits die Forderung, die eigene Argumentation auf bildimmanente Beobachtungen stützen zu können? Ist etwas offensichtlich als Selbstaussage in einem Kunstwerk dargestellt, dann ist der Fall klar – ist etwas nicht offensichtlich dargestellt, soll es aber genauso klar sein, denn dann ist die Aussage eben verborgen vorhanden – ein argumentatorisches Dilemma.

Auch die Analyse der Fresken der Stanza della Segnatura, die wohl zu den meistbesprochenen Kunstwerken der Geschichte zählen, kann hier weniger überzeugen. Zwar referiert Müller reichhaltig die Forschungsliteratur, die Deutung am Kunstwerk selbst fällt aber schwächer aus. So konzentriert er sich auf eine Figur am linken Rand der Disputà, die er als ‚Pictura‘ ausdeutet – mit den bildimmanenten Argumenten, dass sie auf idealistische Art und Weise schön gestaltet sei und eine prominente Position mit Bezug zum Betrachter einnehme (S. 37–38). Die weiteren Ausführungen, die es dann schnell zur Tatsache erklären, eine ‚Pictura‘ vor sich zu haben, kursieren seitenweise in humanistischer Literatur und kurzen analogen Rückversicherungen im Fresko (S. 39–49), und das ist schade – denn gerade die Bildimmanenz hätte eingehend viel stärker ausgeführt werden können mit Blick auf die Figuren am rechten Bildrand, wo ein alter Mann ebenfalls auf das Geschehen deutet und mit einem jungen Mann korrespondiert, der noch viel stärker einen Betrachterbezug herstellt und Medialität thematisiert, indem er sich über die gemalte Brüstung in den Betrachterraum hinein beugt. Dann aber hätte vielleicht die Deutung nicht so eindeutig in die gewünschte Richtung einer ‚Pictura‘ und einem neoplatonischen Schönheitsvokabular ausfallen können. Auch die Analyse der übrigen Fresken inklusive der Gewölbedarstellungen, in denen Raffael mit immer wieder neuen und je anderen Selbstdarstellungen gearbeitet haben soll, überzeugt nur bedingt; um hier eine sichere Basis eines durchgehenden Programms zu gewinnen, hätte zum Beispiel auch das Selbstbildnis unter den Sänftenträgern in der „Vertreibung des Heliodor“ – so es denn eines ist, offensichtlich oder dissimulativ – ausführlich einbezogen werden können.

Dies ist leider eine Schwäche der Arbeit, die zwischen den zahlreichen Ableitungen aus Textquellen und Forschungsmeinungen nicht mit vielen überzeugenden visuellen Befunden aufwarten kann, und ebenso mangelt es an einem konsequenten Abgleich der Erkenntnisse. Prägnant ist das Beispiel der „Fornarina“, wo Müller in der Signatur auf ihrem Armband, in dem Haken zwischen den Worten, ein hebräisches ‚Iod‘ erkennen will. Dies wird dann mit kabbalistischer Lehre in Verbindung gesetzt, um daraus ontologische Aussagen über Raffaels Schöpferstatus abzuleiten (S. 132). Nun sieht der Haken einem ‚Iod‘ in keiner Weise ähnlich – sollte es eine spezielle Schreibweise sein, hätte eine Vergleichsabbildung Abhilfe schaffen können – und die Konsequenz über das Passen in die eigene Theorie hinaus wird nicht bedacht, etwa ein Vergleich zu allen anderen Signaturen. Zum Beispiel hat Raffael im „Sposalizio“, der Vermählung Mariens (Mailand, Pinacoteca di Brera), krähenfußartige Zeichentrenner in seiner ebenfalls lateinischen Signatur benutzt – sind das nun auch ‚nur‘ Punkte oder versteckte Zeichen? Oder gilt so etwas erst ab der römischen Zeit als geheimes Zeichen, vorher aber nicht, und zöge das nicht wiederum den vermeintlichen Befund in Zweifel? Hier zeigt sich die Gefahr, in dem kleinsten Farbfleck codierte Aussagen zu vermuten.

Ob man sich Müllers Theorie anschließen mag, hängt vor allem davon ab, wie weit man den zahlreichen Gedankengängen durch Primär- und Sekundärquellen hindurch zu folgen bereit ist, die an Belesenheit nichts vermissen lassen. Allerdings entfernen sie sich immer wieder in Zyklen von den eigentlichen visuellen Befunden, oder sie deuten sie in langen Assoziationsketten aus. Symptomatisch ist die Reihung an Konjunktiven – so ist das erste inhaltliche Kapitel zu „Raffaels vorrömische[r] Zeit“ auf weiten Strecken formuliert als ein ‚es scheint, dass‘, ‚ist wohl der Tatsache geschuldet, dass‘‚ ‚dürfte keine Rolle gespielt haben‘, ‚muss dies gewesen sein‘ und dergleichen mehr. Dazwischen sind dann Aussagen gestreut wie: „Leonardo, der als umgänglicher und hilfsbereiter Gesprächspartner galt, wird die Fragen seines jungen Kollegen gerne beantwortet haben.“ (S. 24–25) Ein Szenario, das die rote Linie zur Konjektur deutlich überschreitet – ob sich Raffael wann wie mit Leonardo in welchem Tonfall unterhalten haben mag, ist sicherlich nichts, was aus den Leonardo-Bezügen seiner Kunstwerke geschlussfolgert werden kann. Ähnliche Sprünge vom Konjunktiv zur Tatsache finden sich leider häufiger, und am Ende der Argumentationen fühlt sich der Leser zwar bestens über den Bezugsreichtum an Literatur informiert, es bleibt aber immer wieder der Wunsch nach einem Mehr an Fakten und Tatsachen, nicht nur dicht miteinander verwobenen Ableitungen, Indizien, Assoziationen und Vermutungen – die dem angelegten Theorem zwar nicht den Reiz nehmen, aber eben auch nicht zu einer einleuchtenden Standfestigkeit verhelfen.

Die Produktionsqualität des Buches ist gut – es ist übersichtlich und handlich gestaltet, von solider Ästhetik, und kann mit mehr als 50 durchgehend farbigen Abbildungen aufwarten, nicht selbstverständlich für eine solche theoretisch-konzeptuell orientierte Dissertation. Das selbstgesteckte, hohe Ziel der Gesamtdarstellung eines künstlerischen Selbstentwurfs von Raffael, insbesondere mit Argumentation aus den Werken heraus, erreicht sie zwar nicht, muss sie aber vielleicht auch nicht – auf dem Weg dorthin liefert der Autor manche wertvolle Gedankengänge und Impulse, die weiterer Forschung reichhaltig Ansätze bieten mögen.

10.07.2018
Sebastian Dohe
Künstlerschaft als Konstrukt. artifex. Müller, Fabian. Raffaels Selbstdarstellung. 2018. 288 S. 57 meist fb. Abb. 24 x 17 cm. Imhof Verlag, Petersberg 2018. EUR 39,95. CHF 45,90
ISBN 978-3-7319-0667-4   [Michael Imhof]
 
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