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Die Himmelsscheibe von Nebra

Nicht weniger als einen aktuellen Tatsachenroman der Archäologie wollten die beiden Verfasser vorlegen, ganz im Sinne der Idee des Bestsellerautors K. W. Marek, besser bekannt als C. W. Ceram. Doch kann dies gelingen, wenn man gerade die sonst im Fokus stehenden Hochkulturen des Vorderen Orients weitgehend beiseitelässt und sich auf das heimische Mitteleuropa bezieht? Ein Gebiet, das archäologisch vor allem mit Pfostenlöchern als Relikten zur Rekonstruktion von Bauten und zerbrochener Keramik, Kupfer- und Bronzeobjekten als Repräsentanten der materiellen Kultur glänzt. Immerhin, im Fokus der beiden Autoren, dem Historiker und Literaturwissenschaftler Kai Michel, und dem Landesarchäologen für Sachsen-Anhalt und Direktor des Museums für Vorgeschichte in Halle/Saale, Harald Meller, steht einer der Ausnahmefunde der europäischen Archäologie der letzten Jahrzehnte: die so genannte Himmelsscheibe von Nebra. Damit haben sie sich einen spektakulären Hauptdarsteller gewählt, der bereits aufgrund seiner neuesten Geschichte um die Rückgewinnung eines durch Raubgrabung entdeckten Artefaktes genügend Stoff für einen veritablen Archäologiekrimi geboten hätte. Doch es tut dem Buch gleichsam gut, dass gerade dieser Aspekt, zwar selbstverständlich gebührend erwähnt wird, dennoch gar nicht so sehr im Mittelpunkt der Betrachtungen steht. Vielmehr geht es sowohl um die mögliche Funktion und Bedeutung des Artefaktes sowie um die Aunjetitzer-Kultur, die es geschaffen hat.

Die Publikation ist daher zweigeteilt. Zunächst werden die Hauptakteure, die Himmelsscheibe und die mit ihr gemeinsam deponierten Artefakte, ins rechte Licht gerückt und nach allen Facetten hin gebührend ausgeleuchtet. Einleitend wird daher selbstverständlich die spektakuläre Rückführung im Zuge eines verdeckten Ermittlungsverfahrens erzählt, an der auch Harald Meller maßgeblich beteiligt war (S. 24–50). Doch damit waren die Probleme längst nicht vom Tisch. Abgesehen davon, dass der Fund selbst von einigen Fachkollegen zunächst skeptisch betrachtet und die Echtheit in Frage gestellt worden ist, stand nun ein wahres Feuerwerk an unterschiedlichen Untersuchungen und Beschäftigungsfeldern vor dem Forschungsteam in Halle. So mussten Fragen nach dem Material, der Zusammensetzung und nicht zuletzt der Herkunft geklärt werden, was letztlich nur unter Mitarbeit und Einbeziehung von naturwissenschaftlichen Laboren möglich war (S. 78–93). Die hieraus resultierenden Erkenntnisse lieferten nicht nur einen spannenden neuen Hinweis auf den Aktionsradius der bronzezeitlichen Netzwerke bis ins heutige Cornwall, sondern geben Auskunft über technisches Knowhow, wie es bislang kaum möglich war. Daneben konnte vor allem im Zusammenhang mit dem Gerichtsprozess gegen die Hehler auch naturwissenschaftlich einwandfrei der Deponierungsort, nämlich der Mitterberg bei Nebra in Sachsen-Anhalt, nachgewiesen werden (S. 72–93). So konnten die wohl zunächst politisch wichtigsten Aspekte, nämlich zum einen die tatsächliche Echtheit der Scheibe, als auch deren antiker Deponierungsort verifiziert werden. Inhaltlich galt es selbstverständlich vor allem den möglichen Code der Ikonographie und Darstellung auf der Himmelsscheibe selbst zu verstehen und nach Möglichkeit zu knacken. Auch hier war die Zusammenarbeit der Archäologie mit den Naturwissenschaften – der Astronomie – von großer Wichtigkeit. Es war letztlich vor allem W. Schlosser, der sich eingehend mit dem Artefakt beschäftigte und mit einigen faszinierenden Details und Überlegungen beispielsweise zur Darstellung der Plejaden lieferte. Sollte sich die Annahme als richtig erweisen, so wären wichtige Himmelsbeobachtungen in Kombination mit einem frühen Kalenderwesen, welches auch eine Schaltjahrregel beinhaltet, in der Urform der Himmelsscheibendarstellung enthalten (S. 52 – 71; S. 111–126). Spannend ist freilich die Frage, woher die hier ansässige Bevölkerung an solch ein Wissen gekommen sein könnte – eine Bevölkerung, die bislang durch eine ästhetisch ansprechende, wenn auch eher einfachere materielle Kultur aufgefallen war. Ikonographie als auch Himmelsbeobachtungen aus den frühen Hochkulturen wie etwa aus Mesopotamien und Ägypten liefern mögliche Vorformen für diese Idee – ob das Wissen jedoch durch Wissenstransfer, Handelsnetzwerke, Wanderungen etc. bis nach Mitteldeutschland gelangte, muss zumindest bislang weitgehend spekulativ bleiben. Interessant ist in jedem Falle, dass auch die Himmelsscheibe und ihre Darstellung einem Wandel unterworfen war, und, wie die beiden Autoren zeigen können, mehrere Phasen von Umarbeitung und Veränderung durchlaufen hat, die nicht zuletzt möglicherweise auch mit einem Verlust von Wissen in Zusammenhang stehen mögen (S. 139–147).

Der zweite, umfangreichere Teil des Buches, „Reich der Himmelsscheibe“, widmet sich schließlich dem Entstehungsumfeld des bahnbrechenden Objektes. Auch hier spielt vor allem Harald Meller die neuesten, vorwiegend durch die Zusammenarbeit mit unterschiedlichsten Naturwissenschaften gewonnenen Ergebnisse aus, die eine neue Sicht auf die mitteleuropäische Heimat während der Bronzezeit ermöglichen. Zusammen mit Kai Michel entwirft er das lebendige Bild einer Hybridkultur, die sich letztlich aus den sogenannten Schnurbandkeramikern und Glockenbecher-Leuten am Ende des Neolithikums im 2. Jt. v. Chr. formiert hat (S. 192). Ja, die beiden Autoren gehen sogar noch weiter und wollen eine erste Hochkultur auf mitteleuropäischem Boden postulieren, die sich nicht nur auf eine – aus dem Vorderen Orient entlehnten Idee der Himmelsbeobachtung – sondern gleichsam eine stark stratifizierte Gesellschaft zu stützen wusste. Neben der Himmelsscheibe mit ihrem verschlüsselt erhaltenen Wissen dienen den Autoren dabei als Hauptargument vor allem überdimensionierte Grabhügel, sogenannte Fürstenhügel, und ihre jeweils vergleichbare Ausstattung an Architektur und Beigaben (S. 192ff.). Auch aufgrund neugewonnener naturwissenschaftlicher Daten können teils alt, zu Beginn des 19. Jh. gegrabene Grabhügel, wie die von Leubingen (S. 192–210), Helmsdorf (192–240) und Bornhöck (S.241–254) erneut auferstehen und in einen Zusammenhang gebracht werden. Dabei führen auch die, leider nur in wenigen Fällen noch erhaltenen Skelettreste, zu spektakulären Erkenntnissen, darunter ein Fürstenmord (S. 234–239) sowie die „Entdeckung“ eines weiteren Grabhügels, der bislang nicht als solcher in der Diskussion erschien (Dieskau). Gerade in Hinblick auf die etwas steile These der Hochkultur mag es den Leser kaum überraschen, dass einer dieser Fürstengrabhügel wie selbstverständlich als „Pyramide des Nordens“ bezeichnet wird (S. 241–254).
Dies sind, vor allem in der europäischen Vor- und Frühgeschichtsforschung, tatsächlich völlig neue Hypothesen, die in diesem für das breite Publikum ausgerichteten Buch sehr lebendig und interessant vorgestellt werden. Dabei bemühen sich die beiden Autoren ein möglichst umfassendes Bild dieser Aunjetitz-Kultur zu zeichnen, die sie als „Reisefürsten- bzw. Königtum“ charakterisieren, das sich auf einen straff organisierten Heeresapparat (S. 270–282) stützen konnte. Ein kurzer Einblick in die Religion und nahe Goseck und Pömmelte gegrabener Kreisanlagen, lässt zumindest die Idee einer Kultur entstehen, die sich zu Anfang Ritualen wie Menschenopfern hingab, welche in einer „Religionsrevolution“ (S. 313) zum Ende der Aunjetitzer-Kultur aufgegeben wurden.
Trotz dieser tatsächlich umwerfenden neuen Ergebnisse, die teils allein aufgrund akribischer Archivarbeit und unter Berücksichtigung neuester naturwissenschaftlicher Daten möglich waren, sei dennoch kritisch eingeworfen, dass viele der hier präsentierten Ideen bislang allein anhand der archäologischen Quellen nur schwer zu untermauern sind. Jenseits der Himmelsscheibe, einigen wenigen Elitegräbern (Fürstengrabhügel) und Deponierungen sowie den Kreisgrabanlagen sind nur wenige Funde und Befunde der Aunjetitzer Kultur vorhanden, die die hier vorgestellten Thesen tatsächlich belegen lassen. So sprechen die Autoren stets von einer stratifizierten Gesellschaft, doch werden letztlich allein die Fürstengräber näher vorgestellt. Doch wie sehen die Gräber einer wie auch immer gearteten Mittel- oder Unterschicht aus? Wo liegen diese und was macht sie aus? Reicht der Verweis auf einen Fund wie die Himmelsscheibe und das Entstehen einer wie auch immer gearteten Elite in Mitteleuropa tatsächlich aus, um bereits von einer „Hochkultur“ zu sprechen? Was macht eine Hochkultur tatsächlich aus? Ist es die häufig zitierte Anwesenheit von Schrift, Administration, Städtewesen, Organisation von Landwirtschaft, Erwirtschaften von Wirtschaftsüberschüssen, weitreichende Handelsbeziehungen etc.? Gerade auch der Verweis auf das frühe Mesopotamien und Ägypten zeigt, wie schwierig die Anwendung dieser Begriffe im Kern eigentlich ist.
Obgleich viele der Ideen also in der Forschung sicherlich zunächst auf Kritik, wenn nicht sogar Ablehnung stoßen werden, so ist doch gleichsam wichtig, dass sie auch das Potential bieten eine neue Diskussion innerhalb der europäischen Vor- und Frühgeschichtsforschung anzustoßen und hier positiv gesehen eine mutige Vorreiterrolle zu übernehmen. Es lädt vor allem dazu ein, über Kernbegriffe der Altertumsforschung wie etwa „Hochkultur“ etc. neu nachzudenken und diese unter Berücksichtigung neuer Ergebnisse zu hinterfragen. Zudem darf sicherlich besonders hervorgehoben werden, dass gerade von Fachwissenschaftlern geschriebene Bücher, die den Horizont der europäischen Vor- und Frühgeschichte für ein breites interessiertes Publikum eröffnen, bislang weitgehend fehlen. Zum einen zeigt das Buch fundiert, wie wichtig die Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen ist, da sie zu ganz neuen Sichtweisen über unsere Vergangenheit führt. Zum anderen lehrt es, sich für die eigene Vorgeschichte zu begeistern und zu erkennen, welch ein Potential in ihrer Erforschung steckt.

05.03.2019
Robert Kuhn, Berlin
Die Himmelsscheibe von Nebra. Der Schlüssel zu einer untergegangenen Kultur im Herzen Europas. Meller, Harald; Michel, Kai. 2019. 384 S. Propyläen Verlag, Berlin EUR 25,00. CHF 28,50
ISBN 978-3-549-07646-0
 
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