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Auf den Spuren von Semper, Wagner und anderen

Spurensuche. Eine renommierte Virologin auf Reisen und Spaziergängen zu ihrem Ururgroßvater Gottfried Semper, Architekt, Baumeister, Architekturtheoretiker (1803-79). Mit kritischen Blicken auf seinen widersprüchlichen Charakter, verhaltener Idealisierung seiner Entwürfe (viele) und Bauten (wenige), subjektiven Vergleichen mit stilistisch Ähnlichem. Details und Redundanzen eingeschlossen. All dies jedoch in erstaunlich wissensgesättigten Ausflügen in die Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Illustriert durch genüßlich zu lesende Beziehungskonstellationen wie die so problematische zwischen dem immer bemüht-engagierten Semper und einem fast mühelos erfolgreichen Musikfürsten Richard Wagner. Ein Höhepunkt in diesem Buch.

Ein Buch in dem Bekanntes neu, anders koloriert wird. Antike kulturelle Tradition und italienische Renaissance als architektonisch stilbildend auch für das bürgerliche 19. Jahrhundert zu verstehen, Sempers Bauprinzip also, kann hier kein Thema für eine Historismus-Eklektizismus-Debatte sein. Doch freilich Anlaß für immer wieder skizzierte zeitgenössische persönliche und fachliche Kontroversen, denn im Publikumsgeschmack der Zeit dominiert häufig die Gotik. Womit ein deutscher Nord-Süd-Gegensatz auftaucht, der sich mit Sempers lebenslanger Vorliebe für Polychromie, Sgrafitti und farbig gestalteten Innenräume und Fassaden wiederholt. Gerne hätte man dazu, auch aus familiären Quellen, mehr gewußt. Versteht sich doch der 27-jährige Semper als „eigentlich ein südlicher Mensch“ (1830), der später an Schinkels Berliner Bauakademie „das Magere, Trockene, Scharfe, Charakterlose“ kritisiert. Renaissance oder Gotik, eine zeitgenössische kunst-historische Konstellation, an der sich Semper ein Leben lang abarbeitet. Auch das ist nicht neu, gewinnt aber in der persönlich-familiären Sicht in diesem Buch die Dimension einer leisen Tragik. Die sich mit einem Semper zu komplettieren scheint, dessen architektonische Entwürfe in vielen europäischen Ländern gelobt und kopiert werden, der jedoch Entworfenes häufig nicht oder nicht vollständig umsetzen kann. So baut sein Sohn Manfred die (zweite), 1945 zerstörte Dresdner Hofoper, die im Februar 2020 wiedereröffnete Gemäldegalerie/Sempergalerie kann der Barrikadenkämpfer Semper 1848 nicht zu Ende führen und später in Wien beendet sein Konkurrent von Hasenauer Burgtheater, Natur- und Kunsthistorisches Museum. Original, von ihm entworfen, gebaut und erhalten, finden sich nur das Stadthaus in Winterthur, vielleicht Sempers Lieblingsbau, und das polychrom gefaßte Bildprogramm in der Aula des heute umgebauten Polytechnikums in Zürich. Dort kannte man auch die von ihm polychrom gestaltete Fassade an einem Waschschiff. Weniger bekannt ist das hier vorgestellte Kleinteilige wie ein Kasernenanbau (Bautzen), ein Kirchturm (Affoltern), Kultgegenstände für die von ihm gebaute, zerstörte Dresdner Synagoge. Beispiele für die eminente gestalterische Vielfalt eines Perfektionisten, als den wir Semper in diesem Buch kennenlernen. Und als einen Architekten, der nie ein, sein eigenes Haus besaß oder entwarf. Ein lebenslang Unbehauster auch im Wortsinn, wie ihn die Autorin am Ende ihrer Spurensuche zu recht nennt. Wie Wagner ist er in Rom gestorben und dort auch beerdigt, Wagner in Wahnfried. Heimisch geworden ist er hierzulande anders als Wagner nur im kulturellen, nicht aber im allgemeinen öffentlichen Bewußtsein. Semper in dieses öffentliche Bewußtsein stärker einzubinden ist das zentrale Anliegen dieses Buches. Doch vielleicht wäre eine Kurzfassung dieser Familiengeschichte als Kunstgeschichte und Kunstgeschichte als Familiengeschichte hilfreicher gewesen.

03.05.2020
Wolfgang Schmidt
Auf den Spuren von Semper, Wagner und den anderen. Hamburg, Paris, Athen, Dresden, London, Zürich, Wien, Rom. Moelling, Karin. 26 x 21 cm. Edition Braus, Berlin 2019. EUR 25,00.
ISBN 978-3-86228-198-5
 
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