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misère – Darstellungen von Armut im 19. Jahrhundert.

Die Darstellung von sichtbarer Armut in Gestalt von sozialen Außenseitern wie Bettlern, Arbeitern und Tagelöhnern galt (und gilt immer noch) als eine Sphäre der Kunst des 19. Jahrhunderts, die in der auf die von Meisterwerken fixierte Kunstgeschichte eher am Rande behandelt wurde. Auch wenn in Courbets weltberühmten Bild Das Atelier des Malers ausgerechnet eine bettelarme ältere Frau als Gegenbild zum selbstbewussten Maler Courbet auftaucht, wenn gerade im Medium der Buchillustration in Frankreich das Narrativ der genderorientierten Darstellung von Prostituierten als Ausdruck eines damals sehr realen sozialen Elends in die Hochkunst etwa von Edgar Degas überführt wurde oder der spanische Maler Fernand Pelez als "Fachmann für Elendsdarstellungen" im 19. Jahrhundert gelten kann: kaum ein realistisch soziales Thema ist seit dem frühen 19. Jahrhundert so unzeitgemäß zeitgemäß, anfangs wenig kunstgemäß und später überaus bildwürdig gewesen wie die Darstellung von Armut und Elend. Die renommierte amerikanische Kunsthistorikerin Linda Nochlin, die 2017 im Alter von 89 Jahren starb, gilt in der Kunstgeschichte nicht nur als erste Kunsthistorikerin, die um 1970 mit feministischen Fragestellungen die tradierte Kunstgeschichte aufmischte, sondern die auch zur vielzitierten Expertin der Kunst des 19. Jahrhunderts avancierte. Ihre letzte - posthum veröffentlichte - Untersuchung kann als Summe ihres Lebens als sozialkritisch argumentierte, den Problemen ihrer Zeit sehr aufgeschlossene Forscherin gelten. Mit diesem Band hat Nochlin zuletzt noch einmal thematisches Neuland betreten; alle vier Kapitel des Bandes reflektieren auf differenzierte Art und Weise zentrale Fragen des 19. Jahrhunderts nach der sozialen Geltung und der Bildwürdigkeit von Darstellungen, die mit Aspekten von Armut und Ungerechtigkeit verbunden waren: die Autorin verbindet dabei breite wissenschaftshistorische sowie sozialgeschichtliche Aspekte mit konkreten rezeptionsästhetischen Analysen einzelner Bilder und verdeutlicht dabei, dass die seit im 19. Jahrhundert aufbrechenden Ungerechtigkeiten zwischen Armut und Reichtum, zwischen Besitzenden und Besitzlosen bis heute längst nicht unabgegolten sind: Fragen nach der moralischen Bewertung und dem Status von Kunst überhaupt berühren heute Dimensionen, die sich mit dem Besitz und der Moral von Kapital und Zugänglichkeit zur Bildung auseinandersetzen - und gerade in den heutigen sozialen Medien permanent neu verhandelt werden. Nochlins zum Teil verblüffenden und immer spannend formulierten Bildanalysen kann man dabei doppelt rezipieren: sie lassen sich einerseits im engeren Kontext tradierter Kunstgeschichte verstehen, andererseits aber auch sozusagen mit Blick auf die heutigen Verhältnisse zunehmender globaler Ungerechtigkeitslücken lesen: ein äußerst gelungenes Musterbeispiel kunsthistorischer Analyse von Bildformen soziopolitisch gedeuteter Aktualität.

04.06.2021


Michael Kröger
Misère. Darstellungen von Armut im 19. Jahrhundert. Nochlin, Linda. 240 S. 73 fb. Abb. 24 x 15,6 cm. Piet Meyer Verlag, Bern 2020. EUR 28,40. CHF 32,00
ISBN 978-3-905799-62-0
 
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