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New York auf Postkarten

„Die Ansichtskarten, welche die Menschen kaufen, sind in der ganzen Welt einander Ă€hnlich. Sie sind koloriert; die BĂ€ume und Wiesen giftgrĂŒn, der Himmel pfaublau, die Felsen sind grau und rot, die HĂ€user haben ein geradezu schmerzendes Relief, als könnten sie jeden Augenblick aus der Fassade fahren (
). Wenn die Welt tatsĂ€chlich so aussĂ€he, könnte man wirklich nichts Besseres tun, als ihr eine Marke aufzukleben und sie in den nĂ€chsten Kasten zu werfen. Auf diese Ansichtskarten“ – so notierte Robert Musil weiter, „schreiben diese Menschen (
) ‚Du kannst Dir keine Vorstellung machen, wie schön es hier ist‘ oder: ‚wie wir hier schwelgen‘.“
UnabhĂ€ngig von dieser wunderbaren Volte, dass man sich trotz oder gerade wegen des Bildes keine Vorstellung machen kann, besitzt das serielle Produkt im normierten Format eine ungeheure Wirkmacht. Sie dienen nicht zuletzt als visuelle Gebrauchsanweisung, wodurch sie den Blick sowie das Wissen um Stadt-, Straßen- oder Landschaftsstrukturen in hohem Maße definieren. Die durch den massenhaften Umlauf erzeugte kollektive Dimension – im Jahr 1908 waren allein in Amerika 667 Millionen Karten auf dem Postweg – entsteht eine durch das einzelne Motiv geprĂ€gte Ă€sthetische Kennung, die vorgibt was schön‘ ist – oder wie Italo Calvino es pointiert ausfĂŒhrt: „Es ist ein kleiner Schritt von der RealitĂ€t, die Fotografiert wird, weil sie schön ist, zur RealitĂ€t die schön ist, weil sie fotografiert wurde.“
Postkarten liegen im Trend, nicht als Mittel der Kommunikation im herkömmlichen Sinne, sondern als bildwissenschaftlicher Forschungsgegenstand. Bisher nahm das triviale Massenmedium in der Hierarchie der Bildmedien eines der untersten RĂ€nge ein, aber der Blick hat sich gewandelt. Postkarten werden als eigenstĂ€ndiges Format wahrgenommen, ĂŒber welches sich Aussagen ĂŒber die einzelnen Objekte, deren Sichtbarkeit und die sich Ă€ndernden Wahrnehmungsgewohnheiten treffen lassen.
2001 erschien beispielsweise eine Buchserie unter dem Titel ‚Langweilige Postkarten‘, wobei neben dem einzelnen Motiv, die sich abzeichnenden visuellen Muster von besonderem Interesse waren. Selten haben Autobahnkreuze oder FlughafenparkplĂ€tze der 70er Jahre ihre strukturierte ‚Schönheit‘ derart entfalten können. Die Ausstellung samt Katalog ‚Hier ist es schön. Grazer Ansichtskarten‘ von 2007 hat sich vor allem um das historische Medium Postkarte verdient gemacht und Axel Gampp spĂŒrt 2010 dem ReprĂ€sentationscharakter des Mediums im musealen Bereich nach.
Diese nur streiflichtartig annotierte Reihe kann nun um das Buch ‚New York auf Postkarten 1880-1980‘ erweitert werden. 2010 bei Scheidegger & Spiess erschienen, prĂ€sentiert sich hier die Sammlung Andreas Adam. Neben den einleitenden Essays wurden den eigentlichen Objekten nahezu 500 Seiten zugestanden, um sie als EinzelstĂŒcke, aber auch als serielles Produkt und in Reihe wahrnehmen zu können. Sie sind großzĂŒgig und ohne störendes Beiwerk gesetzt und zum Teil sogar als ausklappbares Leporello anschaubar, so dass in der brillant gedruckten Form selbst die Haptik der Ansichtskarten greifbar erscheint.
WĂ€hrend die Postkarten thematische wie chronologisch geordnet wurden – die Kategorien reichen von der Freiheitsstatue, den Ghettos, die Skyline ĂŒber Lower Manhatten bis hin zur Hochbahn oder den öffentlichen PlĂ€tzen wie Trinity Place – nehmen die beiden Essay Autoren einen ĂŒbergeordneten Blick ein. WĂ€hrend Paul Goldberg der Stadt New York auf Postkarten nachgeht und damit zugleich eine facettenreiche Stadtgeschichte entwirft und dabei sĂ€mtliche Aspekte immer wieder an das Medium Postkarte rĂŒckbindet, nimmt Kent Lydecker verstĂ€rkt die HistorizitĂ€t des Mediums in den Blick.
Dass die Postkarte anfĂ€nglich vor allem in Deutschland boomte, ist dem Fortschritt in der Farbdrucktechnologie geschuldet. Doch ihren Lauf nahm sie weltweit. DafĂŒr waren aber erhebliche Reformen im Postbetrieb notwendig, da im Gegensatz zu Postkarten die Zeitung in der Zustellung wie in der Preisbildung bevorzugt behandelt wurde. Man umging das System, indem man private Nachrichten auf den Zeitungen notierte und sie an Freunde wie Verwandte sandte. Sinkende Portokosten (die ĂŒbrigens der EmpfĂ€nger zu entrichten hatte) ließen um 1870 die Idee einer Karte fĂŒr kurze Mitteilungen – z. B.. dass ein ausfĂŒhrlicher Brief unterwegs sei – entstehen. Das heißt, die Akzeptanz, Kurznachrichten öffentlich zu versenden, war in der Gesellschaft mit EinfĂŒhrung des normierten KĂ€rtchens bereits gegeben. Zudem ließen die versendeten Bilder die AttraktivitĂ€t des Mediums rasant steigen.
Zahlreiche historische Postkarten weisen fĂŒr den heutigen Betrachter und Leser zwei Eigenschaften auf. Zum einen ist das nicht mittig gesetzte Bild und zum anderen die Textnachrichten, die das Bild quasi rahmen. Bild und Text mussten den Schulterschluss ĂŒben, da die RĂŒckseite Anfangs allein der Adresse vorbehalten war. Erst ab 1907 erhielt der Text ein eignes Feld neben der Adresse und das Bild eroberte die gesamte Vorderseite. Die Ansichtskarte war geboren.
In welcher Form die Ansicht imagebildend sein konnte und immer noch ist, lĂ€sst sich in der Sammlung Adam bestens nachspĂŒren. Sie bietet die Möglichkeit, dem Sujet Postkarte in all ihren historischen Bedeutungsebenen – sei es im LĂ€ngs- wie im Querschnitt – nachzugehen und sie als Bild zu lesen.

30.03.2013
Martina Dlugaiczyk
Hrsg.: Kramer, Thomas; Beitr.: Adam, Andreas; Goldberger, Paul; Lydecker, Kent. New York auf Postkarten 1880–1980. Die Sammlung Andreas Adam. 560 S. 900 fb. Abb. 27 x 22 cm. Gb. Verlag Scheidegger & Spiess, 2010. EUR 59,00. CHF 79,00
ISBN 978-3-85881-211-7   [Scheidegger & Spiess]
 
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