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Autopsie

Selbst heutzutage erscheinen manchmal noch Bücher, die den Atem ihrer Leser stocken machen. Sie sind mit derartiger Akribie und Kenntnis, solcher Passion und Begeisterung gemacht, dass man sich beschenkt und beglückt fühlt. So und nicht anders müssen Bücher sein, zumal in einer Zeit, da „Information“ längst auf anderen Wegen vermittelt wird. So wie die beiden Bände mit dem Titel „Autopsie“, ediert von Manfred Heiting und Roland Jaeger, verlegt bei Steidl in Göttingen.
Auf gut 1200 großformatigen, durchweg brilliant und üppigst bebilderten Seiten präsentieren uns die Autoren eine Längen-, Breiten- und Tiefenanalyse zum Thema „Deutschsprachige Fotobücher“ der Jahre 1918 bis 1945, wie man ihn sich umfassender, reichhaltiger und – jawohl – wunderbarer nicht wünschen kann. Es fällt gleich auf, dass die Themen dieser Bücher schlichtweg die gesamte real existierende Welt ihrer Zeit umfassten – sie sind ihr Spiegel, und dieser spiegelt sich zurück in der „Autopsie“, die damit selbst wieder als Geschichtsbuch von eigenständigem Charakter begriffen werden kann.
Es erscheint durchaus geschickt, mit welcher Strategie die Herausgeber Schneisen in das unfassbar vielschichtige und vielgestaltige Feld ihrer Untersuchung schlagen, dabei unterstützt von renommierten Fachautoren. Bisweilen stehen einzelne Bildbände im Fokus, etwa August Sanders „Antlitz der Zeit“, „Deutschland, Deutschland über alles“ von Kurt Tucholsky und John Heartfield, Erich Salomons „Berühmte Zeitgenossen in unbewachten Augenblicken“ oder Albert Renger-Patzschs „Die Welt ist schön“. Dann gibt es Studien zu einzelnen Buchreihen oder Verlagen: Langewiesches „Blaue Bücher“ selbstverständlich, die Städtereihe „Orbis Urbium“ im Wiener Verlag Epstein, die „Schaubücher“ von Orell-Füssli, der Verlag Hermann Reckendorff, Berlin. Oder die Aufsätze widmen sich Themenfeldern und bündeln so die im Fotobuch auftretenden Zeitphänomene: Olympia 1936, Tierdarstellungen, Tanz, Architektur, Erotik, Industrie, Politik, Landschaft, Kunst, auch werden in einem instruktiven Abschnitt zionistische und nationalsozialistische Propaganda gegenübergestellt. In den insgesamt siebzig (!) Einzelbeiträgen sind dabei stets alle Facetten der Gattung genau auseinandergehalten: Künstlerbücher, Reisebücher, populäre Bildbände zu speziellen Themen, Werbepublikationen, Propaganda, Fachliteratur usw., selbstverständlich auch Mischformen.
„Autopsie“ ist nichts zum schnellen Blättern – das verhindern schon Format und Gewicht. Zudem wird man sofort von den Abbildungen gefangengenommen, die oft verschiedene Auflagen, Ausstattungen, Varianten einzelner Bände zeigen. Man wird hineingezogen in die Texte, liest sich ein, vertieft sich, wenn man will verliert man sich sogar oder – auch dies vorbildlich – nutzt die Bände als Handbuch, die sich über Register, Inhalt und Literaturverzeichnisse erschließen lassen.
„Autopsie“ ist wie ein großes Puzzle, das am Beispiel eines Mediums die Verarbeitung, die Inszenierung und damit auch die Ikonisierung von Geschichte und Kultur begreifbar macht. Vieles von dem, wie wir die Epoche von Weimarer Republik und Drittem Reich wahrnehmen, ist durch Aufnahmen aus den hier vorgestellten Bildbänden geprägt – Aufnahmen, die freilich nicht selten frei flottierend im Bildgedächtnis und Medienfundus umherschweben und dank der „Autopsie“ wieder an ihren ursprünglichen Kontext rückgebunden werden. Dabei offenbart „Autopsie“ auch, dass Bücher bereits damals in einen Markt eingebunden waren, der seine eigene Dynamik besaß und sein eigenes Recht einforderte. Neben den Büchern werden daher auch die Möglichkeiten ihrer Vermarktung thematisiert, vom dekorierten Schaufenster über Studien zu Schutzumschlägen bis hin zu Werbebroschüren, Anzeigen und Verlagsprospekten.
Kritische Kunst-, Foto- und Buchgeschichte, wie sie hier mustergültig betrieben wird, intensiviert die Aufmerksamkeit dafür, dass Weltwahrnehmung seit der Moderne – und dem mit ihr verbundenen Siegeszug der modernen Technik, die die vorgestellten Fotobuchprodukte erst ermöglichte – von den sie vermittelnden Medien nicht zu trennen ist. All das und noch viel mehr haben die beiden Bände der „Autopsie“ ihren Lesern mitzuteilen. Es ist ein Geschenk und eine Offenbarung – und beides nehmen wir gerne an.

Heiting, Manfred; Jaeger, Roland. Autopsie, Band I. Deutschsprachige Fotobücher 1918 bis 1945. 516 S. 29 x 27 cm. Pb. Steidl Verlag, Göttingen 2012. EUR 95,00 CHF 129,00

Autopsie, Band 2. Deutschsprachige Fotobücher 1918 bis 1945. Jaeger, Roland. Hrsg.: Heiting, Manfred. 560 S. 29 x 27 cm. Gb. Steidl Verlag, Göttingen 2014. EUR 95,00. CHF 129,00

27.03.2015
Christian Welzbacher
Autopsie Bd. 1 + 2 . Hrsg.: Heiting, Manfred. 1076 S., zahlr. Abb. 29 x 27 cm, Kartoniert im Schuber. Steidl Verlag, Göttingen 2015. EUR 138,00 CHF 186,00
ISBN 978-3-86930-774-9
 
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