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Giulio Rimondi

Von Zeit zu Zeit erscheinen Fotobücher, die berühren. Oftmals sind es nicht die dicken, opulenten Bände mit vielen hundert Seiten, die auf den Kaffetischen eine gute Figur machen. Im Gegenteil: Es braucht oft nicht mehr als ein paar Dutzend Seiten, um eine gute Geschichte zu erzählen.
Giulio Rimondis Werk „Italiana“ ist so ein Buch, auch wenn es weit davon entfernt ist, gute Geschichten erzählen zu wollen. Rimondi ist ein Fotograf, der in seiner visuellen Sprache zwischen Abbild und Bild schwankt. Er ist ein Dokumentar seines Heimatlandes Italien, das er von Norden nach Süden bereist hat, um Bilder zu finden, die doch alles andere als einen dokumentarischen Anspruch haben. In ihnen ist das Flüchtige, Dunkle, Momenthafte, Geheimnisvolle, Instabile – in ihnen ist die Einsamkeit.
Welche ein einsames Land, welch‘ einsame Menschen, denkt man sich beim Blättern. Wir sehen keine typischen Motive, sondern Chiffren, symbolhafte Bilder für ein Land, das sich verändert hat. Die Stichworte, der Hintergrund für diesen fotografischen Sound: sinkendes Wirtschaftswachstum. Instabile Politik. Entkräftung. Krise.
Doch nicht alles ist hier Dunkel. Es gibt Lichtblicke. Immer wieder mischt sich ein empathischer Humanismus in diese Bilder. Rimondi trifft Menschen wie Rosario oder Chiko, fotografiert in stillen Gegenden wie Irpinien und an vergessenen Orten wie Africo in Kalabrien oder Aliano in Basilikata: „Ich erreichte Aliano, aber es fühlte sich an, als wäre ich auf dem Mond gelandet. Die Menschen hier sind hart, aber herzlich. Eine Witwe, ganz in schwarz gekleidet, nickte mir zu als ich vorüberging.“
Wir sehen düstere Bilder aus dem Aspromonte-Gebirge in Südkalabrien, wo in manchen Dörfern noch Grekaniko gesprochen wird, ein aus dem Alt- und Mittelgriechischen hervorgegangener Dialekt. Hier fotografiert Rimondi eine alte Frau in einem einsam gelegenen Haus: „Sie sagt kein Wort, vielleicht sieht sie mich nicht einmal, sie schaut durch ein Loch in der Decke in den sich langsam verdunkelnden Himmel. Für sie scheine ich nicht zu existieren, nicht einmal, wenn ich sie anspreche. Einzig meinen Abschiedsgruß wiederholt sie mit exakt demselben norditalienischen Akzent. ‚Auf Wiedersehen und alles Gute‘, höre ich sie sagen, als ich wieder nach draußen trete.“
Dem 1984 geborenen Fotografen gelingen Bilder eines abseitigen Italiens, einem Italien der dunklen Nebenstraßen, der schmutzigen Slums, der öden Provinz. Landschaftsbilder stehen neben Details, Interieurs neben Porträts. Manches ist verschwommen, anderes zeigt er uns ganz scharf und konturiert. Alles hat dieselbe Tiefe. Dieselbe Bedeutung. „Man braucht ein Heimatland, wenn auch nur der Freude wegen, es zu verlassen“, schreibt der große italienische Autor Cesare Pavese. Diese Zeilen sind dem Buch vorangestellt.
Rimondi zeigt ein lichtarmes Italien der leeren Kreuzungen, der dunklen Kirchtürme, der einsamen, diffus beleuchteten Gassen. Menschen treten hier zumeist alleine auf. Immer scheint es so, als sinnieren sie über ihr Leben. Es ist ein Italien der winterlichen Strände, der brennenden Felder. Die monumentale Gedenkstätte Sacrario di Redipuglia im Friaul hat Rimondi auch fotografiert, welche die Gebeine von etwa 100.000 Gefallenen des Ersten Weltkrieges birgt. Es ist ein schauderhafter Ort. Der Tod, er blitzt immer wieder durch dieses Buch: Italiana.

15.03.2017
Marc Peschke
Giulio Rimondi. ITALIANA. Rimondi, Giulio ; Caujolle, Christian . Hrsg.: Rimondi, Giulio ; Caujolle, Christian . Engl. 96 S. 19 x 23 cm. Gb. Kehrer Verlag, Heidelberg 2016. EUR 35,00.
ISBN 978-3-86828-718-9
 
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