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Continental Drift

Taiyo Onorato und Nico Krebs gelingt seit einigen Jahren schon Erstaunliches. Im schwer beackerten Feld zwischen Dokumentation und Fiktion finden sie immer neue Bilder – überraschen den Betrachter stets aufs Neue. Auch die jüngste Publikation „Continental Drift“, erschienen in der Edition Patrick Frey, macht hier keine Ausnahme. Diesmal hat es das Schweizer Duo in die Mongolei verschlagen. Vier Mal sind sie mit dem Auto in Gegenden gereist, die fotokünstlerisch bisher wenig illuminiert worden sind. Das Schwierige war erst mal, überhaupt dorthin zu gelangen, sagen sie: „Das Fotografieren trat zurück, das haben wir oft nebenbei gemacht“, so Niko Krebs.
Das Schöne an ihren Fotografien ist, dass es immer ein bisschen „nebenbei“ aussieht, denkt man sich, wenn man die Bilder aus der Ukraine, Georgien, Aserbaidschan, Turkmenistan, Usbekistan, Kirgistan, Kasachstan, Russland und der Mongolei beschaut. Die Brüche, so scheint es, sind dieser Weltgegend ohnehin eingeschrieben: Das Erbe der Sowjetzeit steht hier unvermittelt neben den Erzeugnissen eines heute schon abgewrackten Turbokapitalismus, epische Naturlandschaften neben aus dem Boden gestampften, neuen Städten. Dann wieder Details, die trister kaum sein könnten.
In dem Nebeneinander zwischen den Verwerfungen des 21. Jahrhunderts und den uralten lokalen Traditionen erkennen Onorato und Krebs – die schon seit 2003 zusammenarbeiten – ganz zu Recht ein bildwürdiges Thema. Wir sehen liegengebliebene Autos am Straßenrand, zerzauste Esel, Neonreklamen, ein Mann auf einem Pferd, uralte Möbel, Lebensmittel, alte Autoreifen, einen Greifvogel, kleine Dörfer und große Städte.
All das zusammen nicht ungewöhnlich, doch die Art, wie sie diese Dinge mit ihren schwarzweißen und farbigen Analogfotografien zeigen, das überrascht noch immer. Alles ist bei Onorato und Krebs ein Geheimnis, alles ist gegenwärtig und doch vollkommen aus der Zeit gefallen. Das Duo schätzt die Fotografie der Vergangenheit, die Reportagen von Robert Frank etwa. Das sieht man, doch das erklärt noch nicht das Geheimnis dieser Bilder. Womöglich ist die Distanz zwischen der Aufnahme und dem Betrachten der Ergebnisse eine mögliche Erklärung für die besondere Aura ihrer Fotokunst. „Don’t try to create and analyze at the same time“, zitieren Onorato und Krebs gerne John Cage und sagen: „Die Distanz ist ein wichtiger Prozess.“
„The Great Unreal“ hieß ihr 2009 erschienenes Buch, das vor allem in Amerika entstanden ist. Schon hier war es die exotische Fremdheit, die uns verzauberte, wenngleich diese auf mannigfaltige Art von den Künstlern arrangiert und inszeniert war. Onorato und Krebs ging es hier vor allem darum, das Vertraute ins Surreale übergleiten zu lassen und es zu verfremden. Das ist bei „Continental Drift“ nicht anders, auch wenn das Duo in ihrem neuen Buch direkter als früher vorgeht. Sie müssen das Sonderbare nicht inszenieren – sie finden es einfach.
„Fremdheit“, schreibt Gerhard Mack in einer Rezension für die Neue Zürcher Zeitung, „so scheinen Taiyo Onorato und Nico Krebs … zu sagen, ist das, was unsere Welt wesentlich ausmacht.“ Fremdheit erfährt man nicht auf die Schnelle. Manchmal muss man eben von Zürich mit einem alten Toyota durch Eurasien, durch wilde Landschaften in die Mongolei fahren, um treffliche Bilder für die Fremdheit zu finden. Unter der fotografischen Ägide des Duos wird sogar eine auslaufende Plastikflasche zu einer besonderen, farbintensiven Merkwürdigkeit.
Herrlich ungeordnet und verwirrend ist dieses Buch: ein irres, wirres Durcheinander von Bildern, die nicht nur fotografischer Provenienz sind, sondern auch aus 16mm-Filmen stammen, welche das Duo vor Ort gedreht hat. Weiterhin typisch für ihr Werk bleibt ihr spielerischer, experimenteller, ausprobierender Ansatz, auch wenn dieser bei ihren oft zu skulpturalen, raumgreifenden Foto-Installationen arrangierten Ausstellungen besser deutlich wird als in einem Buchprojekt wie diesem. (Ich denke vor allem an die phantastische Schau, welche die beiden 2011 in der Kunsthalle in Mainz realisiert haben.)
Das Werk von Taiyo Onorato und Nico Krebs ist letztlich wie dafür gemacht, es in einer Ausstellung in Augenschein zu nehmen. Was nicht bedeutet, dass man dieses Buch nicht kaufen sollte. Denn es erzählt viel über die Welt heute. Eine Welt, die vor Spannung schier zu zerbersten droht. Die sich im Wandel befindet, religiös, territorial, ethnisch. Menschen suchen nach Identität. „Continental Drift“ ist ein wunderbares, hervorragend gestaltetes Buch, das diese Suche in Bilder gießt – und sogar noch das Staunen darüber, wie heterogen die Welt heute ist.

9.6.2017
Marc Peschke
Continental Drift. Onorato, Taiyo; Krebs, Nico. Dtsch.: Engl. 214 S. 130 Abb. Gb. Edition Patrick Frey, Zürich 2016 EUR 78,00. CHF 78,00
ISBN 978-3-906803-20-3
 
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