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Grit Schwerdtfeger: ZEHN

Es ist die Welt, die uns denkt. Grit Schwerdtfeger: ZEHN

Still sind die Bilder von Grit Schwerdtfeger. So still. Kein Kinderlachen ist zu hören, nicht die kalkulierte Unbeschwertheit, die wir aus der Werbung kennen. Stattdessen: ein Schweigen, ein wenig Unglaube, mal einen Anflug von Wut, auch Unbefangenheit, selten ein Lächeln. Vor allem aber: ein fragender, ruhiger, aufmerksamer Blick, der stets zwischen Nähe und Distanz mäandert.
Grit Schwerdtfegers Buch „ZEHN“ zeigt ausschließlich ihren damals zehnjährigen Sohn Lorenz. Im Jahr 2010 hat sie ihn auf seinen eigenen Wunsch fast jeden Tag als Halbfigur oder Brustbild fotografiert. Meistens dauerte das etwa 20 Minuten. Es sind nicht-chronologisch geordnete Porträts einer Langzeitstudie, die ganz auf die Person fokussieren – die Umgebung wird nur angedeutet.
Mal hat Schwerdtfeger Lorenz in der Natur fotografiert, dann in Innenräumen oder auf dem Balkon. Ab und an hat er ein Accessoire dabei, wie auf einem Bild ein Fernglas. Genauer zeigt die Fotografin die Kleidung ihres Kindes: Sweatshirts, T-Shirts, Winterjacken, gelegentlich eine Pelzmütze, wenn es kalt ist. Auffällig ist vor allem die Eindringlichkeit dieser Bilder. Man denkt, der langhaarige Junge wüsste mehr, als seinem Alter für gewöhnlich zusteht.
Schwerdtfeger ist nicht die erste, die sich als Fotokünstlerin dem Thema des Kinderporträts widmet. Denken wir an die surrealen Kinderbilder von Loretta Lux. Doch deren digital perfekt inszenierten Bildnisse vor symbolisch aufgeladenen Naturlandschaften haben einen ganz anderen Charakter. Auch Vee Speers Fotobuch „The Birthday Party“, das die letzten Momente der Kindheit in einer imaginären Party einfängt, ist anders. Es zeigt die Kinder in einem ambivalenten Rollenspiel gefangen. Die Kindheit, so deutet Vee Speers mit ihren Bildern an, ist keineswegs unschuldig. Sie fotografiert ihre jungen Menschen nicht in ihrer Freiheit, sondern hinsichtlich ihrer zukünftigen Rolle.
Und dieser Gedanke kommt einem auch beim Blättern in dem Buch von Grit Schwerdtfeger: Die Kindheit ist eine Zeitspanne, die endlich ist. In der man sich übt, Rollen einzunehmen, in der Selbstbewusstsein und Verletzlichkeit wunderbar offen und oft auch gleichzeitig zum Vorschein kommen. Auch ihr Modell posiert, scheint ein Geheimnis in sich zu tragen. Was ist es? Lorenz gibt es – am Übergang zwischen Kind und Jugendlichem – nicht preis. In dieser Hinsicht erinnern die Fotografien ein wenig an die rätselhaft-melancholischen Schwarzweiß-Kinderporträts von Ingar Krauss.
Grit Schwerdtfeger ist eine sehr genaue Beobachterin. Seit ihrem Fotografie-Studium an der HGB in Leipzig bei Astrid Klein und Joachim Brohm hat die in Berlin und Leipzig lebende Künstlerin vor allem an Schauplätzen der Freizeitkultur fotografiert: Strände, Parks und Aussichtsplattformen. Stets steckt eine Lakonie in ihren Bildern.
Das Lakonische sei das eigentlich Schöne, schreibt Peter Weibel über Jean Baudrillards fotografische Arbeiten. Und diese Erkenntnis macht auch hier Sinn, genauso, wie Baudrillards These, dass es das fotografierte Objekt selbst sei, „das uns träumt“: „Es ist die Welt, die uns reflektiert, es ist die Welt, die uns denkt. Das ist die Grundregel.“
Es ist nicht zu gewagt, hier von einer Umkehrung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses zu sprechen: Der Sohn Grit Schwerdtfegers ist nicht das Objekt der Betrachtung: Er erscheint auf diesen Bildern als derjenige, der den Betrachter, seine fotografierende Mutter beobachtet, „der uns denkt“. In diesen Bildern steckt, so unspektakulär, wie sie Schwerdtfeger fotografiert hat, nicht nur Vertrautheit zwischen Kind und Mutter, sondern auch ein großes Geheimnis. Und auch die Erkenntnis, dass dieses nicht zu lüften, niemals zu offenbaren ist.

19.10.2018
Marc Peschke
Grit Schwerdtfeger. ZEHN. Beitr.: Schwerdtfeger, Grit; Matthias, Agnes. 112 S., 71 fb. Abb. 26 x 20 cm. Gb. Dtsch, Engl, Span. Fotohofedition, Salzburg 2018. EUR 33,00
ISBN 978-3-902993-56-4
 
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