KunstbuchAnzeiger - Kunst, Architektur, Fotografie, Design Anzeige Verlag Langewiesche Königstein | Blaue Bücher
[Home] [Foto, Film, Medien] [Rezensionen] [Druckansicht]
Themen
Recherche
Service

[zurück]

Cali Chronicles

Das Schöne im Unschönen
Marc Augés philosophisches Konzept des Nicht-Orts, des non-lieu, ist seit einigen Jahren ein Dauerbrenner für die Kunst und die Fotografie geworden. Die Bücher, die vermeintlich identitätslose Orte wie Shopping Malls, Supermärkte, U-Bahnen, Parkplätze, Straßenecken, Bahnhöfe, Tankstellen oder Großstadtbrachen vor Augen führen, füllen inzwischen unzählige Regale.
Was viele Fotokünstler und Fotokünstlerinnen an solchen Orten fasziniert, ist die Ortlosigkeit. Diese Bilder, sie könnten überall entstanden sein. Der städtische Raum ist austauschbar geworden, schreibt der französische Anthropologe und Ethnologe Augé in seinem 1992 erschienen Werk „Non-Lieux“ – ein Klassiker der Postmoderne. Er hat keine Geschichte und keine Identität mehr: „So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen läßt, einen Nicht-Ort.“
Nicht-Orte sind einsam, ähnlich und gleichförmig, schreibt Augé – und genau dieses Gefühl stellt sich ein, wenn man Bücher wie Tobias Bärmanns „Cali Chronicles“ durchblättert. Schon das Titelbild – Pflanze vor weißer Wand, Schatten werfend – lässt vollkommen unklar, wo es fotografiert worden ist, auch wenn der Titel andeutet, dass es sich hier um Motive aus Kalifornien handelt.
Das schlicht gestaltete, auf schönem, mattem Papier gedruckte Fotobuch, das auf längere Texte ganz verzichtet, ist voll von solchen Bildern: gestapelte Pappkartons in der Sonne, die verstaubte Frontscheibe eines Autos, Häuserecke mit Fenster, Papierkorb auf Parkplatz, abgedecktes Auto mit Fenster im Hintergrund, nächtliches Basketball-Feld, besonnter Unrat auf Bürgersteig. Triviale Motive, die alleine verbindet, dass viele der Szenen sonnenbeschienen sind – was man als „kalifornisch“ erkennen könnte. Ansonsten deutet nichts darauf hin, dass alle diese Bilder in Los Angeles fotografiert wurden. Menschen sind hier nur ganz ausnahmsweise im Bild. Einmal etwa versteckt sich eine Person hinter einem Baum.
Es ist ein Verdienst des in Hamburg lebenden Fotografen, dass diese von kalifornischer Sonne beschienenen Trivialitäten alles andere als trivial wirken. Doch was ist der tiefere Sinn solcher Bilder? Es ist die Zufälligkeit des Schönen, die Tobias Bärmann in seinem Buch beleuchtet. Das Schöne, das in all dem Unschönen unserer Zivilisation steckt. Die weiße Sitzgruppe auf dem grauen Parkplatzbeton ist zweifellos schön – auch die graue Steinmauer oder das zerbeulte silberne Autoblech. Dennoch bleiben Zweifel. Man kann so ein Buch nicht besser fotografieren, kaum besser drucken oder gestalten. Doch haben wir in den vergangenen Jahren zu viele solcher Bücher in der Hand gehabt. Die Unorte in der Fotokunst: Langsam sind sie fade geworden. Es wird Zeit für Fotografinnen und Fotografen, neue Orte zu finden.

16.04.2020
Marc Peschke
Tobias Bärmann. Cali Chronicles. Bildbeschreibung von Czerlitzki, Anna. 2019. 104 S. 63 fb. Abb. 28 x 21 cm. Br. Engl. Kerber Verlag, Bielefeld 2019. EUR 40,00. CHF 52,00
ISBN 978-3-7356-0638-9
 
© 2003 Verlag Langewiesche [Impressum] [Nutzungsbedingungen]