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Roger Ballen. Roger the Rat

„Roger Ballen – Fotografien 1969-2009“ in der Sammlung Fotografie des Münchner Stadtmuseums war eine jener Ausstellungen, die für Jahre prägend blieben. Die Retrospektive des aus New York stammenden, in Johannesburg lebenden Fotografen Roger Ballen, diese radikalen Bilder im Original zu sehen, das faszinierte nachhaltig.

Bis heute hat sich der Blick Ballens, seine Phantasie, sein Mut, die Armut zu inszenieren, nicht gewandelt. Doch hat er immer neue Protagonisten für seine Interieurs gefunden, für diese Bilder, die voller Schmutz und Ärmlichkeit sind. Immer stärker hat Ballen die Welt sich selbst erfunden, hat seinen radikalen Dokumentarismus in etwas Phantastisches gewandelt.

Bekannt wurde der 1950 geborene Ballen mit seinen dokumentarischen, schwarzweißen Baryt-Abzügen, welche die Menschen der Kleinstädte Südafrikas zeigen – wie etwa das bekannte Doppelporträt „Dresie und Casie“. Seit 1981 war Ballen in Johannesburg als Geologe tätig und entdeckte auf seinen Fahrten jene dörflichen Gemeinden, in denen bis heute Nachfahren der Buren leben. Ihre alltägliche Armut steigert sich in der bühnenartigen Inszenierung zum expressiven, grotesken Trauerspiel.

Posierten diese Menschen vor ihrem dürftigen Besitz, vor schmutzigster Kulisse, so wandelte Ballen diese so besondere Arte Povera im Laufe der Jahre. Aus Faktum wurde immer mehr Fiktion. Mal rückte der Mensch mehr aus dem Fokus, wurde zum Fragment, dann überraschte er mit seinen intensiven Bildern der südafrikanischen Band „Die Antwoord“, für die er auch ein phänomenales Musikvideo drehte.

Nun ist Ballen ganz auf dem Feld des Fiktionalen angekommen. Sein neues Fotobuch „Roger The Rat“ dreht sich um eine Rattenfigur, ein menschliches Wesen mit Rattenkopf. Das Hinüberwechseln in die Sphäre der Fabel, der Karikatur, nimmt den Bildern aber nur auf den ersten Blick die Schärfe.

In Selbstäußerungen legt Ballen eine autobiografische Lesart dieser in den letzten fünf Jahren fotografierten Serie nah: „Ich kann mich nicht erinnern, wann ich die Maske der Ratte zum ersten Mal aufgesetzt habe … Ich bin mir nicht sicher, ob ich eine Ratte oder ein Mensch bin. Vielleicht war meine Mutter eine Ratte und mein Vater ein Mensch. Ich denke, ich bin ein etwas von beidem …“, sagt er. Und weiter: „Ich nannte dieses Projekt ‚Roger die Ratte‘, weil hinter der Maske der Geist von Roger Ballen lebt.“ Roger The Rats isoliertes Leben ist geprägt von Schmutz, Kontrollverlust, Angst, Gewalt und Sex, den die Ratte mit Puppen hat, auf die sie uriniert, denen sie mit erigiertem Penis nachstellt. Abseitig und verstörend sind die neuen Bilder: Kommunikation findet nur noch mit leblosen Figuren statt.

Die Hinwendung zu künstlichen Körpern erinnert auch an den Wandel, den etwa Cindy Shermans Werk in den frühen neunziger Jahren kennzeichnete. Doch Shermans „Sex Pictures“, für die sie Prothesen, anatomische Modelle und Schaufensterpuppen inszenierte, lassen an pornografische Filme denken, während Ballens ästhetische Vorbilder aus anderen Bereichen kommen: Der expressionistische Film, der Horrorfilm, die Kunst der Surrealisten, ihre Suche nach dem „Unterbewussten“, die verschnürten Schaufensterpuppen Man Rays, die Puppeninszenierungen Hans Bellmers natürlich – all das ist hier verborgen.

Vor allem aber bleibt Ballen ein Wiedergänger des eigenen bizarren Kosmos – und das zeichnet ihn aus. Vergleichbar mit Kunst-Provokateuren wie Pier Paolo Pasolini hat er über die Jahre ein einzigartiges Werk geschaffen, das er nun in immer neuen Facetten schillern lässt. Ballen gehört zu den großen Künstlern unserer Zeit. Ein Außenseiter, der die Sphären des Sexuellen und der Gewalt in neue, verunsichernde, ganz eigenständige und originäre Bilder gießt. Die „Beschmutzung des Schönen“ im Sinne des französischen Philosophen Georges Bataille, das ist es, was ihn immer mehr zu beschäftigen scheint. Doch Reste von Romantik finden sich auch in diesem – durchaus brutalen – Buch. Am Ende bleibt dann doch die Vermutung: Auch „Roger The Rat“, zwar arm im Herzen, sucht nur nach Liebe.

05.02.2021
Marc Peschke
Roger Ballen. Roger the Rat. Hrsg.: Barth, Nadine; Beitr.: Ballen, Roger. 128 S. 61 Abb. 22 x 22 cm. Englisch. Hatje Cantz Verlag, Berlin 2020. EUR 28,00. CHF 32,00.
ISBN 978-3-7757-4819-3
 
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