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Ralf Meyer — Architektonische Nachhut

Architektonische Nachhut: Ralf Meyer fotografiert die Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus.

„Architektonische Nachhut. Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus“ ist der Titel eines Foto-Buchs des 1966 in Bremen geborenen Ralf Meyer, das die architektonischen Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus vor Augen führt. Doch nicht das nationalsozialistische Bauen in seiner Zeit ist das Thema des an der Kieler Muthesius Kunsthochschule ausgebildeten, heute in Hamburg lebenden Fotografen - sondern die spätere Umnutzung der Architektur in der Demokratie.
In vielen Fällen scheinen sich die gezeigten Orte - wie etwa das Finanzministerium Berlin, die „Ordensburg“ Sonthofen, das „Gauforum“ Weimar (welches heute vom thüringischen Landesverwaltungsamt und einem Einkaufszentrum genutzt wird), der Flughafen Tempelhof, die Zeppelin-Tribüne in Nürnberg, das Haus der Kunst in München, die Münchner Hochschule für Musik, ehemals „Führerbau“ des Forums der NSDAP oder der U-Boot-Bunker in Bremen - ganz ihrer Vergangenheit entledigt zu haben.
„Es gibt kein unkontrolliertes Bauen: jedes dieser Gebäude ist aus einer spezifischen Intention, einem Auftrag heraus errichtet worden. Diese implizierte Botschaft verliert das Gebäude jedoch nicht allein durch den Wandel der es umgebenden gesellschaftlichen Ordnung“, sagt Ralf Meyer und folgt in seiner Arbeit entschieden der Frage, wie sich das heutige Leben in der faschistischen Architektur entfalten kann.
Da gibt es etwa eine Aufnahme des Weimarer „Gauforums“. Ein düsterer Bau, vor dem der Elektronik-Riese „Saturn“ mit Pfeilen auf sein Dasein hinweist. Da gibt es Bilder von Ausstellungsbesuchern im Münchner Haus der Kunst, andere von einem Hamburger Hochbunker in der Nähe der Speicherstadt, in dem das „Restaurant Galego“ heute portugiesische Spezialitäten anbietet. Vor der Jugendherberge Ravensbrück hat Meyer Jugendliche fotografiert, vor der martialischen Bauplastik eines Adlers auf dem Flughafen Tempelhof parkt ein rosaroter Bus, der auf ein Revuetheater hinweist.
Bundeswehrsoldaten sind in die Generaloberst-Beck-Kaserne in Sonthofen eingezogen, machen hier Liegestützen oder lauschen den Ausführungen ihres Vorgesetzten. Einer von diesen sitzt hinter einem riesigen Eichentisch aus brauner Vorzeit - vor ihm, orange, Kunststoffkästchen für Schreibutensilien. Vor der E.ON-Firmenzentrale in Bayreuth, leicht modernisiert mit einem neuen Dach, wehen Europa-Fahnen und über der Zeppelin-Tribüne in Nürnberg schließlich wünscht „Schöller“ auf großen Plakaten eine „Fröhliche Eiszeit“.
Doch es ist nicht der ironische Kontrast, den Meyer bevorzugt sucht - er zeigt die Bauten des Nationalsozialismus auch nicht ausschließlich in der Geistlosigkeit und monumentalen Gleichförmigkeit jenes „vergröberten Klassizismus“, wie Werner Durth in seinem Buch-Beitrag „Stumme Boten“ schreibt, sondern bisweilen auch das Nüchterne und Moderne nationalsozialistischer Zweckbauten, die zumindest teilweise von den Architekten des Neuen Bauens geplant worden waren. Werner Durth: „Auf der Ebene unterhalb der monumentalen Repräsentationsbauten ... eröffnete sich das weite Feld profaner Zweckbauten für Industrie und Verkehr, in dem nach 1933 zahlreiche Architekten Arbeit fanden, die zuvor in Büros tätig gewesen waren, in denen das Neue Bauen der Weimarer Republik erfolgreich erprobt worden war.“
Meyers Bilder, im Buchanhang finden sich zudem genaue Informationen über die gezeigten Bauten und ihre spätere Nutzung, sind ein eindringliches Plädoyer dafür, die Relikte nationalsozialistischer Architektur, die „architektonische Nachhut“, einer Aneignung durch die Demokratie zu unterziehen. Denn die Verbindung verschiedener Zeitschichten, die neue Nutzung, so schließt Werner Durth seinen Buchbeitrag, kann „deren Dämonisierung ebenso wie deren Verklärung vermeiden helfen.“
24.6.2007



Marc Peschke
Ralf Meyer — Architektonische Nachhut. Text: Werner Durth, Günter Kunert. Dtsch, Engl. 168 S., 107 fb. Abb., 25 x 30 cm, Gb., Kerber, Bielefeld 2006. EUR 38,00
ISBN 978-3-86678-052-1
 
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