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Manege frei! - Die Kulturgeschichte des Zirkus

Kulturgeschichte – das ist, immer noch, die erfolgreichste Form der Geschichtsschreibung auf dem Sachbuchmarkt, die immer neue Höhepunkte, immer neue Peinlichkeiten hervorbringt. Ich erinnere mich noch gut an eine Party, auf der der Gastgeber die „Kulturgeschichte der Scheiße“ geschenkt bekam. Nachdem ich die Produktidee entsprechend kommentiert hatte stellte man mir den edlen Schenker vor, der zufällig neben mir stand: Es war der Autor. Keine Sorge, der Band von Sylke Kirschnick spielt in solch einer Liga nicht. Ihr Produkt, der Prachtband „Manege frei“, ist ein solide gemachtes Coffee-table-Buch mit wunderbaren Abbildungen. Das Buch hat nichts schlüpfriges, sondern ist, im Gegenteil, durchaus erfreulich. Nur fragt sich am Ende der Lektüre, ob der Band wirklich „Kulturgeschichte“ präsentiert.
Zunächst erscheint es originell, das Thema „Zirkus“ in „Nummern“ zu zergliedern, die sich in einzelnen großen Kapiteln wie eine Zirkusgala aneinanderreihen. Die Autorin beginnt bei den Pferdedressuren, deren Geschichte, Tricks, Helden und Methoden sie präsentiert. Im zweiten Kapitel treten die Clowns auf, die nicht selten die Nummern des ersten Teils persiflieren. Der Blick geht weit zurück, etwa in die Zeit der Commedia dell’Arte (ab etwa 1550), die uns den (durchaus hinterhältig-gemeinen) Vorfahr des Weißclowns schenkte. Später kommt dann ein weiterer Clownstypus hinzu, der „dumme August“.
Bevor im vierten Teil die Trapezkünstler auftreten entführt uns die Autorin in ein Genre, das wir aus heutiger Sicht mit dem Zirkus nicht mehr verbinden: Pantomime. Sie war nicht allein Teil einer umfangreichen Programmchoreographie, sondern konnte unter Umständen der ganzen Zirkusvorstellung den Stempel aufdrücken: indem man thematisch-theatralische „Stücke“ aufführte, deren pantomimisch dargebotenes Skelett gleichsam mit dem Fleisch der anderen Zirkusgewerke – Pferde, Raubtiere, Clowns, Akrobaten – angereichert wurde. Das, was wir heute „eigentlich“ unter Zirkus verstehen, war damit der szenischen Handlung unterordnet. Ende des 19. Jahrhunderts war diese Form des Zirkus derart erfolgreich, dass sie mit den Spektakeln der Theater konkurrierte und mit zumeist nationalpatriotischen Sujets (Napoleon und Nibelungen) um Zuschauer buhlte. Ein wunderbares Kapitel, das nicht nur die Politisierung des Zirkus zeigt, sondern auch, in welchem Kräftefeld man um die Gunst der Massen warb. Hier ist die Autorin ganz bei sich und es macht Freude, den Band zu lesen.
Im fünften Teil geht es erneut um Leben und Tod. Die Raubtiere treten auf und Kirschnick zeigt, wie die Bestie bezwungen, verniedlicht, vermenschlicht wird (Teetrinkende Löwen), erörtert aber auch die Verbindungen von Zirkus, Tierhandel, Menagerien und Zoos. Erneut ein spannendes Kapitel. Es folgen weitere Kapitel mit Artistengruppen, Fakiren, Indianer (auch hier die Parallele zu Weltausstellungen und den Völkerschauen in Hagenbecks Tierpark), schließlich ein abschließendes Kapitel, dass sich der Zirkusarchitektur widmet.
Das alles referiert Kirschnick nicht nur auf nationaler Ebene, sondern im internationalen Zusammenhang. Als ausgebildete Germanistin weiß sie zudem vieles über den Zirkus als Topos in der Literatur beizusteuern – und genau an dieser Stelle war der Rezensent unbefriedigt, da sich hier eine wunderbare Möglichkeit geboten hätte, in einem ganz zentralen Sinne kulturgeschichtlich zu argumentieren: Welche Bedeutung hatte Zirkuskultur tatsächlich für die Gesellschaft einer jeweiligen Zeit? Und weiter: Welche gesellschaftlichen Vorstellungen spiegeln sich in der Kunst? Diese entscheidenden kulturgeschichtlichen Fragen werden im vorliegenden Band zwar an vielen Stellen umkreist. Einer Antwort geht die Autoren aber aus dem Weg. Dabei hätten die Lektüren von Kafka und Thomas Mann, die Verweise auf „Kinder des Olymp“ oder Fellinis Clowns ideale Einstiegsmöglichkeiten geboten, um dieses Verhältnis zu ventilieren. So fehlt am Ende tatsächlich das kulturgeschichtliche „big picture“ des Zirkus. Und mit ihm jene Analyseebene, die das Buch zu einer „Kulturgeschichte“ gemacht hätte.

22.09.2013
Christian Welzbacher
Manege frei!. Die Kulturgeschichte des Zirkus. Kirschnick, Sylke. 192 S. 130 fb. Abb. 30 x 25 cm. Gb. Theiss Verlag, Darmstadt 2013 EUR 39,95. CHF 53,90
ISBN 978-3-8062-2703-1
 
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