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Skandalkunst. Zensiert. Verboten Geächtet.

Wenn das so Große, Ideale plötzlich klein erscheint und schrumpft, werden Aggressionen wach. Wie bei dem diesen Bucheinband zierenden Papst Johannes Paul II., schlafend, in die Kniekehlen getroffen zusammengekauert wie ein Schutz suchendes, zur Strecke gebrachtes Tier. Nicht herrschender Tröster, Opfer in Maurizio Cattelans „Neunter Stunde“ (1999). Das zweite Opfer: Die nach vehementen Protesten wegen dieses von ihr ausgestellten Werkes zurückgetretene Direktorin der Warschauer Nationalgalerie „Zacheta“ (Ermutigung). Zwischen diesem Heute und Massaccios florentiner Wandfresko (1427) der aus dem Paradies fliehenden Adam und Eva, nackt und deshalb später übermalt, präsentiert sich hier ein buntes Kaleidoskop von 75 nicht nur zensierten und übermalten, sondern auch verdeckten, verschwiegenen, versteckten, verbotenen und zerstörten Kunst-Werken. Mit denen international (auch Japan, Rußland und die USA sind beispielhaft vertreten) und kulturen- und zeitenübergreifend unbewußte oder beabsichtigte ästhetische, religiöse, ethische oder historisch-politische Grenzüberschreitungen präsentiert werden. Die mit meist schnellen repressiven Antworten jeweiliger Obrigkeiten und demokratischer Öffentlichkeiten rechnen durften, war doch nun dort die beanspruchte Deutungshoheit über Normen gefährdet. Doch solch akademisierte Betrachtungen finden sich nicht in diesem Buch, das seinen Lesern durch zweiseitig wohltuend kurz-informative Texte zu in ihre Zeit gestellten Werken (und den Reaktionen darauf) Anregungen für eigene Schlüsse anbietet. Wobei die Autorinnen auch Raum für eigene Ratlosigkeit lassen: Ist die von Piero Manzoni 1961 produzierte und mit „Merda d`artista“ (Künstlerscheiße) bedruckte Dose nun Kunst oder nicht?

Wir nähern uns hier einer heute von Damien Hirst beispielhaft repräsentierten kommerzialisierten Verhöhnung von Kunst und Kunstbetrieb (Für die Liebe Gottes, 2007). Die sich in und mit diesem Buch als momentaner Endpunkt einer im 16. Jahrhundert beginnenden (Holbein d.J., Der Leichnam Christi im Grabe, 1521/22) immer rationaleren Betrachtung von Individuum und Welt verstehen läßt. Eine hier dem Leser ebenso fast nebenbei vermittelte Erkenntnis wie die der Ablösung noch im 19. Jahrhundert allegorisch verschlüsselter, besonders erotischer Darstellungen durch seither gemalte und gestaltete Realität (Courbet: Der Ursprung der Welt, 1866). Wie pragmatisch die verstanden werden kann zeigte sich 1985/86 in Paris, wo Haßtiraden den Bau einer Säulen-, Wasser- und Lichtinstallation im davor als Parkplatz genutzten Ehrenhof des Pariser Palais Royal begleiteten (Daniel Buren: Foto-Erinnerung. Die zwei Ebenen).

So verbinden sich hier übersichtlich vorgestellte Werk-Geschichten mit einem unterhaltsamen Spaziergang zu kleinen und großen Skandalen in 600 Jahren Kunst. Bekanntes erweist sich dabei als so noch nicht gekannt, kunstgeschichtliche Entwicklungen gewinnen Konturen. Lehrreich ohne gelehrt daherzukommen ist es deshalb auch ein ideales Buch für alle, die sich zum Schnuppern in der Kunst verführen lassen wollen.

10.11.2013
Wolfgang Schmidt, Berlin-Friedenau
Baucheron, Éléa. Routex, Diane. Baucheron, Skandalkunst. Zensiert. Verboten. Geächtet. Prestel Verlag, München 2013. 178 S., 120 fb. Abb., 26 x 21 cm. Gb., EUR 29,95 CHF 40,90
ISBN 978-3-7913-4848-3
 
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