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Shangri-La – Das Museum hinter der Brücke

Es ist ein merkwürdiges Museum. Die Ausstellung, deren Name Shangri-La einem Roman über ein fiktives Kloster im Himalaya entnommen ist, findet unter fast freiem Himmel statt und erstreckt sich in einsamer Hügellandschaft Italiens am Ufer des von Heilwasserquellen gespeisten Flüsschens Rio Ravanasco nahe der Stadt Acqui-Terme. Das Gelände umfasst 5.000 qm und beherbergt die tausendjährige Geschichte der Arbeit und Mühe unserer Vorfahren.
Auf diesem romantischen Gelände im Piemont zeigt der Künstler Pietro Benzi (1931-2014), ein Umweltaktivist, alles, was er an altem Zeug bei den Bauern der Region einsammelte, weil man es dort nicht mehr brauchte. Benzi gruppierte 2,7 Millionen man könnte sagen Sperrmüllobjekte zu eindrucksvollen Collagen zusammen und ergänzte einige von ihnen mit kurzen Texten, die nach dem Sinn des Lebens fragen. Oder er beschimpft Politiker: „Bla, bla, bla. Korrupter Politiker. Bestimmender Bla-Blaist, verantwortlich für das Zugrundegehen der Welt!“ steht auf einem alten Gipskopf geschrieben.
Alle Textbeigaben sind in italienischer Sprache und man könnte meinen, der Künstler stelle sich seine italienische Herrscherklasse vor. Doch das darf bezweifelt werden. Seine Anmerkungen sind global gemeint: „Das von meinen Freunden Rosa und Piero [Benzi] gegründete Movemento Shangri-La verlangt von euch nicht, heldenhaft zu leben! Aber wenigstens versuchen, nicht unnütz zu leben“ zitiert Benzi den Journalisten und Radikalpolitiker Alberto Bertuzzi aus dem Jahr 1968. Um diesen Sinnspruch herum gruppieren sich verrottete landwirtschaftliche Gerätschaften. Und neben zwei Heiligenfiguren steht der Satz: „Wenn du sterben musst wegen der kaputten Umwelt, wegen der Gifte, die du eingeatmet, gegessen und getrunken hast, ist das die Strafe für dein Stillschweigen!“

Ein Gang durch dieses Museum dürfte viele Stunden dauern, oder man kommt einfach mehrmals vorbei. Jeder Gegenstand erzeugt Erinnerungen an einst lieb gewesene Dinge der Kindheit, an schrullige Tanten, meckernde Onkel oder erste Touren auf klapprigen Fahrrädern. Ein Flohmarkt der Erinnerungen, religiöser Kitsch, Nippes, Schuhe, Plastikspielzeug oder Regale voller Weinflaschen. Da wird dem Betrachter allein schon beim Durchblättern dieses wunderbar abenteuerlichen Bildbandes am Ende bewusst, wie kurz das eigene Leben ist.

Nicht grundlos stand das fiktive Lama-Kloster Shangri-La aus James Hiltons Roman „Der verlorene Horizont“ für dieses Museum Pate. Seit 1965 sammelte der Glockenmechaniker Pietro Benzi gegen das Vergessen. Der Bildessay von Cosima und Klaus Schneider nimmt den Betrachter mit auf eine Reise in das Innere dieser völlig unsystematischen Sammlung. Viel Staub und Spinnfäden haben sich über diese „Stillleben aus verborgenem Tiefsinn“ gelegt, wie der Literaturwissenschaftler Heiner Boehncke diese Ruine eines Museums nennt. Die sechs Texte des Buches kreisen um den Sinn des Sammelns und der Institution des Museums, folgen aber auch poetischen Arrangements und dadaistischen Collagen.

Am Ende des „berauschenden“ Weges bedankt sich der Künstler auf einem handgeschriebenen Schild: „ Dank den weisen Besuchern, die wissbegierig sind, können die Museen fortbestehen. Viel Glück!“

27.11.2015


Gabriele Klempert
Shangri-La. Das Museum hinter der Brücke / Museo dopo il ponte. Beitr.: Boehncke, Heiner; Danicke, Sandra; Flagmeier, Renate; Klemp, Klaus; Meyer, Roland; Wagner K., Matthias. Hrsg.: Schneider, Cosima; Schneider, Klaus. 2015. Dtsch/Engl./; Italienisch. 400 S. 350 meist fb. Abb. 27 x 22 cm. Modo Verlag, Freiburg 2015. EUR 56,00. CHF 64,00
ISBN 978-3-86833-166-0   [modo]
 
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