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Französische Kunst-Keramik 1860-1920 – Ein Handbuch

Wer meint, Nachschlagewerke müßten stets in nüchterner Leidenschaftslosigkeit daherkommen, der wird mit Horst Makus´ opus magnum, erschienen im Tübinger Ernst Wasmuth Verlag, schlagend (um nicht, angesichts des gewichtigen Folianten, gleich zu sagen „erschlagend“) eines Besseren belehrt. Der opulente Band ist ein Ausbund an Passion, ein, das sei sofort vorweggenommen, schieres Wunder an Buch – in mehrerlei Hinsicht. Überraschend ist das hier vorgelegte Kompendium über die ein gutes halbes Jahrhundert prangende Blüte der sich als Sparte des art du feu emanzipierenden künstlerischen Keramik im Frankreich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht allein in seiner beeindruckenden Gestalt wie seinem imponierenden Gehalt – wunderbar geradezu ist sein Erscheinen überhaupt, zumal auf dem deutschen Buchmarkt, gilt doch das Thema der Keramik der Moderne im allgemeinen als nicht mehr en vogue seit Jahren schon. Deutet sich hier, im losen Verein mit vereinzelten anderen jüngst erschienenen Publikationen, eine zage Wende für die Rezeption des Genres an…?!

Der 1934 geborene Fachautor Makus, der neben seinem Beruf als Psychologe seit über 30 Jahren immer wieder und zunehmend mit Veröffentlichungen hauptsächlich zur Keramik des Jugendstils und der lange verpönten Fabrik- und Manufakturware der Keramik der 1950er Jahre hervorgetreten ist, hat mit dieser Publikation erneut Unverächtliches geleistet: Schon der Blick auf die lange Liste der eingangs mit Dank für Rat und Tat bedachten Einzelpersonen und Institutionen läßt ahnen, daß hier eine veritable Lebensarbeit ihren vorläufigen Abschluß gefunden hat als voluminöse Bündelung dessen, was einer über Jahrzehnte und wohl mindestens zu gleichen Teilen aus Herzens-Neigung wie aus wissenschaftlichem Eifer zusammengetragen hat. Daß ein solcher nun gebundener Schatz raren Wissens, der beim ersten Durchblättern schon keinen Zweifel läßt, daß er vom Druck weg zur bleibenden Standard-Literatur für sein Thema avanciert, als Frucht privaten Forschens gewachsen ist und eben nicht einem institutionellen Auftrag sich verdankt ist symptomatisch. Früher zählten solche Delikatessen-Bücher der Kunstgeschichte mit Anspruch auf längerfristige Gültigkeit zu den vornehmsten Projekten von Museen, die durch Veröffentlichung fundierter Bestands- oder Ausstellungskataloge ihrem Forschungsauftrag nachkamen. Doch verschwunden aus den zuständigen Häusern, jenen vor allem mit weitgefächerten Sammlungsbereichen, ist das Gros einstiger Sparten-Spezialisten, nicht selten über die bloß berufsmäßige Profession hinaus intimste Connaisseure einzelner Genres. Geld- und Personalmangel einhergehend mit dem den Museen von der öffentlichen Hand auferlegten Legitimierungsdruck, der ohngeachtet einer Inhaltlichkeit bloß blanke Eintrittszahlen abpresst, machen langwierige Forschung weitgehend unmöglich, deren kaum publikumswirksame Ergebnisse – ein Marketing-Graus! – zudem doch nur wenige, die paar gleichermaßen Passionierten, goutieren könnten. Desto wichtiger für manches marginale Metier ist gegenwärtig ein nicht Zeit noch Mühen scheuendes Privatforschertum, das, zwar unermüdlich lustgetrieben, seine Grenze gleichwohl dort oft findet, wo es an‘s teure Öffentlichmachen seines Ertrages dann geht. Es ist Verlagen unternehmerische Risikoscheu angesichts der Produktion aufwendiger, aber nur einem absehbar kleinen Kreis von Interessenten adressierter Bildbände in gediegener, haltbarer Ausstattung nicht zu verdenken. Und wer weiß, ob nicht auch Horst Makus´ Forschen über die Art Nouveau-Keramik Frankreichs in toto Schubladeninhalt geblieben wäre, gäbe es nicht die schweizerische Ceramica-Stiftung, die seit 1954 wissenschaftliche Publikationen zur Erforschung handwerklicher, kunsthandwerklicher und künstlerischer Keramik aller Zeiten mit Druckzuschüssen bedenkt und diese Veröffentlichung im Wasmuth-Verlag ermöglicht hat. Dank sei der gar nicht genug zu preisenden Stiftung wie dem immer noch wagemutigen Verlag, auch wenn nicht alle Wünsche des Autors in Erfüllung gingen: So blieb die thematisch höchst wünschenwerte Zweisprachigkeit Deutsch/Französisch des Bandes beziehungsweise eine gesamt-französische Parallel-Ausgabe unfinanzierbar.

Horst Makus führt den Leser ein in sein 583 Seiten umfassendes „Handbuch“, was nun nicht mit Handlichkeit gleichgesetzt werden sollte, braucht man doch tatsächlich beide Hände zur Handhabung des schönen schweren Buches, mit einem schon erzählerisch gehaltenen Eingangskapitel. Am Anfang steht ein erschütterndes Ende – nämlich die einer von heute rückschauenden Sicht schier tränentreibende Szene aus dem Jahr 1940, da Arbeiter den keramischen Nachlass des großen, gerade verstorbenen Keramikers Auguste Delaherche aus den oberen Stockwerkfenstern des Manufakturgebäudes in Armantières bedenkenlos entsorgen. Die groteske Szene illustriert herzbrechend den (durch die sich immer gestrenger und dekorloser gebärdende Moderne gar nicht so seltenen) radikalen Wechsel der Moden und Geschmäcker, der einst Hochgeschätztes dem historischen Verdikt der stilistischen Überkommenheit überläßt – auf daß es vielleicht Jahrzehnte später als rares Sammelgut wiederentdeckt werde. So geschah es auch der unter Titeln wie Japonismus und Art Nouveau einen ersten Gipfel europäischer Kunstkeramik ausmachenden französischen Keramik (wie dem deutschen Jugendstil). Ausgehend von diesem Tiefpunkt springt Makus auf dem Zeitstrahl zurück und schildert knapp, doch überaus kenntnisreich und gut lesbar die Entwicklung im Nachbarland, die historistisch und durchaus noch national mit der imitierenden Wiederholung der manieristischen Trompe-l´œil-Keramik Bernard Palissys und dem zu Höchstform getriebenen Wiederaufleben der bemalten Fayence begann. Rasch kamen internationale Einflüsse hinzu, die experimentierfreudigst zu Eigenem verarbeitet wurden. Eine unüberschätzbare Rolle spielten dabei die seit 1851 stattfindenden Weltausstellungen, universale Schaufenster der nationalen Wirtschaften für einen zunehmend global sich orientierenden Industriegütermarkt, wobei handwerklich und manufakturell hergestellte Waren keineswegs ausgeschlossen waren. Allein fünf dieser Mammut-Leistungsschauen fanden von 1855 bis 1900 in Paris, dem damaligen Geschmacks- und Kunstzentrum Europas, statt und boten Inspiration aus fernen Ländern, für die Keramik besonders erst aus dem Nahen, dann aus dem Fernen Osten. Vor allem das Porzellan und die Steinzeug-Keramik Chinas und Japans (1854 war von den USA die wirtschaftliche und kulturelle Öffnung des Inselstaates erzwungen worden) mit ihren reduzierend gebrannten monochromen oder dick laufenden Glasuren übten eine ungeheure Wirkung aus. Unermüdlich experimentierend erschlossen sich französische Keramiker die Geheimnisse der Glasuren und des hochgebrannten Scherben, verquickten die Erkenntnisse mit dem neuen weichlinigen, oft floreal inspirierten Stil, zunächst noch streng symmetrisch-dekorativ arbeitend, späterhin in weich fließend asymmetrischen Formen und mit quasi-natürlichen Glasurverläufen. Technisch scheint die staunenswerte Kunstfertigkeit keine Grenzen gekannt zu haben: Die Reproduktion heikelster Glasuren in Serie, aber auch Eigenentwicklungen wie die vollkommene Beherrschung dekorativer Lüstereffekte, der malerischen Barbotine oder der Kristallglasur zeigen noch heute das Maßstabsetzende der damaligen französischen Keramik, die technologisch und artistisch einen ungeheuren Vorsprung besaß. Vergleichbare Qualitäten fanden sich in Deutschland kaum – die Jugendstilkeramik eines Jakob Julius Scharvogel oder Richard Mutz´ kam zeitverzögert, Max Laeuger folgte mit seiner niedriggebrannten Schlickerdekor-Keramik anderen Einflüssen. Verblüffend ist es immer wieder zu sehen, wie und auf welch´ höchstem Niveau schon damals eigentlich alles an technologischen und formalen Errungenschaften vorweggenommen ist, worum dann weite Teile der sogenannten Studiokeramik nach 1945 sich noch einmal mühen, bis hin zum ideellen Anspruch auf ein eigenständiges, das bloß Handwerkliche der Gebrauchsform überragendes Künstlertum. Dabei konnte sich die damalige Keramik Frankreichs auf eine überaus effektiv und professionell zusammenspielende, in Paris konzentrierte Vermarktungs- und Rezeptionsinfrastruktur aus angesagten Galerien und potenten Handelshäusern, geschmacksprägenden Salons und regelmäßig zelebrierten Ausstellungen, einschließlich einer berichtenden Kunstpresse, verlassen, welche Fabrik-, Manufaktur-, und Einzelwerkstatt-Ware gleichermaßen verbreitete.

So macht denn der Hauptteil des Buches – ein vorzüglich und großzügigst, durchweg farbig bebildertes Namens- und Begriffslexikon zum Thema – konsequenterweise keinen Unterschied zwischen Firmen und Einzelwerkstätten, umfassend vereint es Namen von bekannten und heute unbekannten Keramikern wie die von Firmen ebenso wie angestellter Maler, Bildhauer, Entwerfer, Galerien und keramo-technische Begriffe. Horst Makus brilliert hier mit seinen langjährigen Recherchen und wartet mit vielen, bislang unbekannten Einzelheiten auf. Demungeachtet aber kann es aber auch nicht anders sein, als daß seine immense Sammelarbeit in Winzigkeiten nicht abgeschlossen ist – schon jetzt ließe sich an manchem entlegenen Namen eine Jahreszahl ergänzen: So lebte beispielsweise der für die Porzellanmanufaktur von Sèvres arbeitende japanische Bildhauer Ytiga (Itiga) Noumata von 1873 bis 1954, der Keramiker Louis Joseph Parvillée starb 1936. Auch führt Makus‘ verständliche Frankreichfixierung bei einem der wenigen angeführten deutschen Namen zu einer am Ende brüsk verkürzten Biographie: Wofür der Bildhauer Bernhard Hoetger heute eigentlich bekannt ist – seine Arbeit an der Darmstädter Künstlerkolonie wie die in seiner Worpsweder Zeit erfolgte einzigartige künstlerische Umgestaltung der Böttcherstraße in Bremen –, fällt ganz fort; daß sein Sterbeort Beatenburg in der Schweiz liegt, wäre ebenfalls anzumerken gewesen. Ob weiterhin das, zugegeben, philologisch völlig korrekte Zitieren langer französischer Exzerpte in den Texten mit den vom Autor einwandfrei hinterdrein gegebenen deutschen Übersetzungen in dieser den Lesefluß hemmenden Form nötig gewesen wäre, läßt sich fragen: Man hätte das fremdsprachige Original in Fußnoten oder Anmerkungen anfügen können. Auch wären einige stehengebliebene Schreibfehler, kleinere Formulierungs-Redundanzen wie wenige irrgehende Verweispfeilchen (die verwiesenen Stichwörter „Masseteilchen“ oder „Sintern“ existieren nicht) vermeidbar gewesen. Fast entschuldigend muß man aber angesichts eines solchen Œuvres bemerken, daß sich diese Kritikpünktchen im Nachhinein leicht dahersagen: Sie suchen nichts zu schmälern! Daß gleichwohl auch die Lexikon-Einträge sich spannend lesen und, je weiter man dringt je mehr, zu einem peniblem Gesamtbild der Zeit fügen, ist ein seltenes Verdienst. Einzigartig ist das zum allergrößten Teil zuvor nie veröffentlichte Bildmaterial, welches den Band optisch so delikat macht: Neutral fotografiert behalten Vasen, Gefäße, Plastiken und Reliefs ihre ganze farbliche und plastische Brillianz. Daß Keramikpuristen aus den Legenden nicht erfahren, was per Hand, was mechanisch gefertigt – selbst jenen ist das mitunter nicht ohne weiteres erkennbar –, mag lässlich sein. Dokumentierende Zugaben im Anhang (Modellverzeichnisse der Firma Deert & Balichon (Denbac) und der Faïencerie Héraldique de Pierrefond sowie ein akkurates allgemeines Markenverzeichnis der behandelten Zeit) runden den Band ab.

Man wünscht diesem wundervollen, für unabsehbare Zeit grundlegenden Buch über die einst so in Mißachtung geratene und heute als Museums- und Sammelgut wiedererwachte keramische Hochblüte Frankreichs reichlich Leser und Betrachter. Es ist für Keramikfreunde, Sammler und einschlägige Museen obligat, hoffentlich auch über die Sprachgrenze hinweg nach Westen – allen, die Freude an schönen Dinge und ihren Geschichten haben, sei es an´s Genießer-Herz gelegt.

11.08.2016


Walter Lokau
Französische Kunst-Keramik 1860–1920. Ein Handbuch. Makus, Horst. 584 S., 1200 fb. Abb. 31 x 25 cm. Gb. Wasmuth Verlag, Tübingen 2015. EUR 128,00 CHF 131,60
ISBN 978-3-8030-4032-9
 
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