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Erich Heckel – Das neue Werkverzeichnis

Werkverzeichnisse bilden gewissermaßen die Königsdisziplin der positivistischen Kunstwissenschaft. Sie haben den Anspruch, das Gesamtwerk eines Künstlers darzustellen und sind dadurch Ausgangspunkt für alle folgenden werkmonografischen Betrachtungen. Als wichtiges Hilfsmittel für den Kunstmarkt verzeichnen sie möglichst vollständig die als Originale bekannten und akzeptierten Werke eines Künstlers und dokumentieren die als verschollen geltenden (was Werkverzeichnisse leider auch für versierte Fälscher interessant macht).
Gültige Werkverzeichnisse zu den wichtigen Protagonisten der deutschen klassischen Moderne, insbesondere zu den Vertretern des Expressionismus, wurden und werden in etlichen Fällen dringlich vermisst: Verlässliche und zitierbare Werkkataloge der Gemälde von Lyonel Feininger und Karl Schmidt-Rottluff existieren nicht; Donald E. Gordons Standardwerk „mit einem kritischen Katalog sämtlicher Gemälde“ Ernst Ludwig Kirchners stammt von 1968 und ist hoffnungslos veraltet. Ähnliches gilt für den „Oeuvre-Katalog der Gemälde“ von Christian Rohlfs aus dem Jahr 1978 und galt für das ebenfalls von Paul Vogt verfasste Werkverzeichnis der Gemälde, Wandmalerei und Plastik Erich Heckels von 1965.
Von den Brücke-Künstlern lagen bislang überhaupt nur zu Otto Mueller und Max Pechstein gültige Werkkataloge der Gemälde vor, bis im November 2017 das seit Langem angekündigte, von Andreas Hüneke neu bearbeitete Werkverzeichnis der Gemälde Erich Heckels vorgestellt werden konnte.
Dieses nun, nach vielen Jahren Vor- und Feinarbeiten grundlegend neu bearbeitete Grundlagenwerk verzeichnet auf knapp tausend Seiten in zwei Bänden das Gesamtwerk der Gemälde, Wandbilder und Skulpturen des Mitbegründers der ‚Brücke’. Ergänzt wird der Katalogteil durch Essays zur Maltechnik des Künstlers (verfasst von der Gemälderestauratorin Caroline von Saint-George) sowie zum Schicksal von Heckels Werken in der NS-Zeit: 56 seiner Gemälde und eine Skulptur des Künstlers wurden 1937 als Werke „entarteter Kunst“ beschlagnahmt und „entschädigungslos“ eingezogen.
Wie schon das 1965 erschienene Werkverzeichnis, das Paul Vogt noch gemeinsam mit dem Künstler hatte vorbereiten können, fußt auch dieses Werkverzeichnis auf der Grundlage der von Erich Heckel und seiner Frau Siddi geführten Listen. Wer die Bände jedoch nebeneinanderlegt, sieht sofort, wie sich der Anspruch gewandelt hat: Während Vogt die Werke Heckels lediglich anhand von schwarz/weiß-Fotografien und rudimentären Angaben chronologisch auflistete, sind diesen nun in der Regel großformatige Tafelabbildungen in Farbe sowie ausführliche Eintragungen zu Maltechnik, Signatur, Standort, Provenienz, Ausstellungen und Literatur gewidmet. Bei wichtigen Werken ergänzen weiterführende „Bemerkungen“ oder Werkkommentare ikonografische Hinweise.
Die Gliederung des Werkverzeichnisses folgt dabei nicht nur einer Chronologie, sondern – fast wichtiger noch – einer Zuordnung der Einzelwerke zu Entstehungsorten und Werkgruppen. Dadurch entstehen ikonografisch dichte Bildkapitel, vor allem zu den ikonischen Orten der Brücke-Zeit: Nie zuvor waren die in Dangast, an den Moritzburger Seen, auf Fehmarn oder in Caputh entstandenen Gemälde so lückenlos vereint und abgebildet!
Der größte Gewinn des neuen Werkverzeichnisses ist zweifellos die Aufnahme (und farbige Reproduktion) zahlreicher Neuzugänge an Gemälden, die Vogt noch unbekannt waren. Und dabei handelt es sich nicht um periphere Werke, sondern vielfach um bedeutende Gemälde aus dem bahnbrechenden Frühwerk des Künstlers (überhaupt ist bei Heckel, wie bei nur wenigen anderen Expressionisten das Gefälle zwischen Früh- und Spätwerke erschütternd): Allein aus dem Gründungsjahr der ‚Brücke’ 1905 verzeichnet Hüneke fünf Gemälde Heckels, die Vogt nicht bekannt waren; aus dem ertragreichen Jahr 1909 sind es sogar acht Werke, die das Werkverzeichnis neu aufnehmen kann. Häufig handelt es sich um Rückseiten doppelseitig bemalter Leinwände. Hier macht sich auch ein Paradigmenwechsel bemerkbar, denn heute sind zumeist die früher entstandenen Werke zu begehrten ‚Vorderseiten’ mutiert.
Bei aller Opulenz – in quantitativer wie auch drucktechnisch qualitativer Hinsicht – enttäuscht lediglich der etwas unsystematisch erscheinende Stand der Angaben zu Literatur und Ausstellungen der einzelnen Werke: Während manche Gemälde akribisch dokumentiert zu sein scheinen – bis hin zu jüngsten Verlagerungen, etwa der Sammlung Gerlinger, 2017 – wirken andere sorglos dokumentiert, wie etwa das in Dangast entstandene Frühwerk „Mittag in der Marsch“, zu dem der Band nur zwei Literaturangaben kennt, obwohl Bücher, die das Gemälde abbilden in anderen Fällen zitiert werden. In manchen Fällen scheint es sich um Flüchtigkeitsfehler zu handeln, die durch ein unbefangenes Lektorat hätten vermieden werden können (so etwa, wenn bei dem Gemälde „Zirkus“ der Stuttgarter Staatsgalerie das Vogt-Werkverzeichnis gänzlich vergessen worden zu sein scheint).
Dennoch: FĂĽr mindestens eine Generation bleibt dieses neue Werkverzeichnis unverzichtbar.

02.02.2018
Rainer Stamm
Erich Heckel. Werkverzeichnis der Gemälde, Wandbilder und Skulpturen. Hüneke, Andreas. Hrsg.: Erich-Heckel-Stiftung. 966 S., 1169 Abb. 31 x 26 cm. Gb. Hirmer Verlag, München 2017. EUR 348,00 CHF 517,00
ISBN 978-3-7774-2171-1
 
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