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Catherine Meurisse – Die Leichtigkeit

Die Zeichnerin Catherine Meurisse kommt am 7. Januar 2015 zu spät zur Redaktionssitzung der Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Dort wird sie von zwei Kollegen davor gewarnt, das Büro zu betreten. Schüsse sind zu hören. Elf ihrer Kollegen sterben unter dem Kugelhagel zweier islamistischer Terroristen, weitere Kollegen werden schwer verletzt.
Von dem, was für Catherine danach kommt, handelt das Buch "Die Leichtigkeit". Nachdem die Belegschaft von Charlie Hebdo, die sich nicht unterkriegen lassen will, die sogenannte "Überlebenden-Nummer" herausgibt, bricht Catherine zusammen und verliert zeitweise ihr Gedächtnis. Der Therapeut, mit dem sie an ihrer Dissoziation arbeitet (das ist, wenn man nach einem traumatischen Erlebnis wie erstarrt ist) sagt: "Wenn Sie erst wieder reassoziiert sind, werden Sie das in einem Comic erzählen ..." Genau. Denn wie bewältigt eine Zeichnerin ein Trauma? Indem sie zeichnet. Zum Beispiel den Albtraum, den sie allnächtlich träumt, und wie es ist, auf Schritt und Tritt von Leibwächtern begleitet zu werden. Oder auch das: Auf der Suche nach Stille fährt sie ans Meer. Dort sind wir Zeugen einer ihrer Phantasien: Als kleine Figur sitzt sie unter großzügig gepinseltem Grau, Orange und Rot am Strand, in der Ferne eine angedeutete Insel und hoch über ihrem Kopf die Silhouette eines Flugsauriers. Ist Catherine zurück in die Kreidezeit gereist? Wo man zumindest davor sicher sein kann, dass es noch keinen islamistischen Terrorismus hat geben können? Keine getöteten Kollegen?
Tatsächlich ist es das Reisen, was Catherine wieder zu sich selbst verhilft; Reisen an konkrete Orte und zu konkreten Kunstwerken.
"Was hat Ihnen wohlgetan nach dem 7. Januar?", hatte nämlich jemand gefragt.
"Das Meer zu sehen, Bäume, Himmel, ein Gemälde, Licht. ... Im Januar einige Tage nach dem Massaker, habe ich einen Himmel gesehen, der Gold auf den schillernden Horizont herabregnen ließ .... wie auf ein Gemälde von ... von wem noch mal ... Turner. ... oder wie auf einem ... Rothko."
Im November 2015 ist sie in Rom und begegnet in den Gärten der Villa Medici den Niobiden, den 14 Kindern der Niobe, die von den Pfeilen der göttlichen Leto-Kinder niedergestreckt werden: tote Leiber, Sterbende. "Massaker an unschuldigen jungen Leuten durch zornige junge Leute", sagt Catherine angesichts der Abgüsse, die dort das Drama der Hybris veranschaulichen. Viel Gewalt ist in der Kunst, stellt sie in der Villa Borghese und im Palazzo Massimo fest; sie findet dargestellte Gewalt auch da, wo keine ist. "Junge Enthauptete", mutmaßt sie, aber es ist eine "Schlafende Frau"; Oder: "Frau, ihren Henker um Gnade anflehend ..."? Nein. "Keineswegs. Es ist die badende Aphrodite."
Aber im "Auge Gottes", dem Oberlicht in der Kuppel des Pantheon, sieht sie das "Ende des Tunnels des Jahres 2015", und nachdem Catherine an einem Nachmittag einem Stipendiaten der Villa Medici beim Klavierspiel zugehört hat, gewinnt sie ein neues inneres Bild: Auf dem Ludovisischen Thron des 5. vorchristlichen Jahrhunderts ist sie selbst die Aphrodite, die mit Hilfe zweier Gefährtinnen dem Meer entsteigt: "Noch junge Frau, den Kopf aus dem Wasser streckend", tauft Catherine ihre und der Aphrodite Geburt. Aber erst zu Hause in Paris wird der Bann gebrochen, dort nämlich steht sie nach ihrer Rückkehr mit zwei Freundinnen vor Géricaults "Floß der Medusa". Eine Figur oben rechts, "die einzige aufrechte Person zwischen all den Körpern", ist Catherine, wie sie im Januar zwischen den toten und verletzten Kollegen und Kolleginnen stand ... gar nicht lange her.
Catherine ist angekommen: Der Himmel ist blau, der Sand zartgelb, eine kleine lächelnde junge Frau steht in der Mitte auf ihren Zehenspitzen. Es herrscht Schönheit. Es herrscht Leichtigkeit. "Schönheit, die mich rettet, indem sie mir Leichtigkeit zurückgibt."
Der hervorragenden Zeichnerin, Karikaturistin und Aquarellistin, die der Welt zweimal geschenkt wurde, ist ein lesens-, schauens- und bedenkenswertes Buch gelungen. Wer die Kunst zur Freundin hat, geht so leicht nicht unter.

21,07.2018
Daniela Maria Ziegler
Die Leichtigkeit. Meurisse, Catherine. 144 S. 27 x 20 cm. Carlsen Verlag, Hamburg 2018. EUR 19,99. CHF 28,90
ISBN 978-3-551-73424-2
 
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