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Magritte

Der Büroangestellte Charles Singulier (Karl Sonderbar) erwartet eine offizielle Beförderung, vor Aufregung wird er ein wenig übermütig und erwirbt auf dem Flohmarkt eine schwarze Melone - die es allerdings in sich hat. Einst gehörte sie nämlich dem Künstler René Magritte (1898-1967)! Als er sich plötzlich im Spiegel von hinten sieht, erschrickt er und will die Melone abnehmen – leider unmöglich! Da eröffnet ihm ein zweidimensionaler Mann mit Zylinder und Augenklappe, er sei auserwählt worden, das Rätsel Magritte zu lösen. So lange könne er den neuen, alten Hut nicht mehr absetzen. Aufregende, verwirrende, verstörende, ja ärgerliche Erlebnisse kommen auf den zunächst unwilligen Singulier zu, aber auch noch nie Dagewesenes: Eine namenlose junge hübsche Magritte-Spezialistin hat offenbar Interesse an ihm und führt ihn in ein Museum mit Bildern des Meisters ...
Die Werke des großen belgischen Surrealisten laden geradezu dazu ein, eine ganze Geschichte daraus zu spinnen: Der italienische Zeichner Thomas Campi und der belgische Szenarist Vincent Zabus nahmen die Einladung an (anlässlich des 50. Todestages des Meisters am 20.8.2017), und ganz in Magritte´scher Tradition gelang ihnen eine liebenswert surreale Geschichte, die sich keinen Deut um Realität oder gar Interpretation schert. Dabei findet man eine repräsentative Reihe von Bildern als Zitate in die Erzählung eingefügt - auf einem 20-Euro-Schein sitzt gar Der Therapeut (1937), der Mann mit dem Oberkörper in Form eines Taubenkäfigs -, wobei sich Campi meisterlich an der direkten, starkfarbigen, unmissverständlichen und unmittelbaren Palette des Surrealisten orientiert.
"Dies ist keine Biografie", sagt (oder warnt?) der Untertitel. Nein, natürlich ist das Comic-Album keine Biografie, so wenig wie die Pfeife auf Magrittes Bild eine Pfeife, sondern das Abbild einer solchen ist. Aber es ist ein Zugang zur phantastisch-surrealen Welt eines großen Künstlers, auch im wörtlichen Sinne, denn Singulier geht auf seinem Weg zu Magritte nicht nur an dessen Bildern vorbei, sondern auch in sie hinein und manchmal wieder aus ihnen heraus. Außerdem wird er von ihnen angesprochen, geradezu angefallen sowie herausgefordert: "Durch mich sagt uns Magritte: Man muss zeigen, was verborgen ist", sagt Das rote Modell (1947) (Sie wissen schon: das Paar Stiefel, die eigentlich Füße sind bzw. umgekehrt ...); "Magrittes Werk ist figürlich, aber es ist eine beständige Absage an die Abbildung!", meint Die schwarze Magie (1935) (die schöne unbekleidete Frau, die von der Taille aufwärts in reinstem Himmelblau erscheint!).
Was ist real? Was Fiktion? Wo berühren sich Dichtung und Wahrheit? "Es gibt keine Antworten. Nur Bilder ...", sagt Magritte zu Singulier. "Interessieren dich meine Werke, dann sieh sie dir an!" Genau!
Ist das Rätsel nun gelöst? Offenbar ja! Denn Singulier kann zwar nach seiner Reise durch Magrittes Leben und Bilder dessen Melone schließlich problemlos absetzen, findet auch in das Vorzimmer seines Chefs zurück, wo er seine Beförderung erwartet, aber was geschieht? Dort erwartet ihn die junge Magritte-Spezialistin in einem Gemälde - vor grauen Wolken über einer weiten Landschaft schwebend! Nichts leichter für Singulier, als sich zu ihr aufzumachen, hinein in das sichere Rechteck mit Rahmen, um neben ihr dahinzuschweben – nicht wie die dunkelgekleideten Männer mit Melonen, die auf Golkonda (1953) vor Mietshäusern auf- und absteigen, sondern Hand in Hand über friedlicher Landschaft!
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann schweben sie noch heute.
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Es war einmal vor langer Zeit, da herrschte in der Stadt Uruk am Euphrat im Süden Mesopotamiens der mächtige Gilgamesch: zwei Drittel göttlich, ein Drittel Mensch. Weil er sein Volk unterdrückte, erschuf Aruru, die Göttin der Geburt, den Enkidu - zwei Drittel Mensch, ein Drittel Tier -, der mit ihm kämpfte und sein Freund und Waffengefährte wurde. Gemeinsam besiegten die beiden Helden das Ungeheuer Chuwawa in seinem Zedernwald. Ischtar, die Liebesgöttin, trug dem Gilgamesch daraufhin ihre Liebe an und versprach ihm Macht und Reichtum. Er aber lehnte stolz ab. Gekränkt schickte sie ihm den Himmelsstier, der Uruk angriff, aber Gilgamesch und Enkidu töteten ihn. Als Enkidu starb, wurde er von Gilgamesch beklagt. Aus Angst vor dem Tod, der auch ihn eines Tages ereilen würde, machte er sich auf die Reise in die Unterwelt, überquerte das Wasser des Todes und traf auf Utnapischtim, der ihm von der Sintflut und dem Schiff erzählte, das er erbaut hatte, um die Seinen zu retten. Auf seinem Rückweg nach Uruk gewann Gilgamesch das Lebenskraut - verlor es jedoch wieder. Zuhause erschien ihm Enkidu schließlich als Geist und berichtete ihm über das Leben im Jenseits. Gilgameschs Leben und Taten wurden auch nach seinem Tode nicht vergessen: Ein Mann namens Sin-leqe-unninni trug um 1200 v. Chr. alle Erzählungen über Gilgamesch zusammen und schuf daraus in akkadischer Sprache das Zwölftafel-Epos des Gilgamesch. Doch damit nicht genug: Viele Jahrhunderte später zeichnete und schrieb ein Mann namens Jens Harder noch einmal die Geschichte von Gilgamesch und Enkidu in Form einer graphischen Erzählung auf ...
Man muss sie lieben, die Männermythen, das Fluchen und Drohen, das Jammern und Verwünschen, die großspurigen Gebärden und das zügellose Temperament, den schnell entfachten Zorn und die rasche Beschwichtigung. Dann liebt man auch das uralte Gilgamesch-Epos und noch mehr Jens Harders fabulös-spröde Umsetzung des ältesten niedergeschriebenen Heldenepos als Graphic Novel. Eng an der babylonischen Ikonographie, die vor Kraft nur so strotzt, aber dennoch mit sehr eigenem "Pinselstrich" stellt er sie uns vor: den machthungrigen Gilgamesch, sagenhafter Erbauer der neun Kilometer langen Mauer von Uruk, und den wilden Enkidu, der geschaffen wurde, um Gilgamesch zu unterstützen und zu zivilisieren, selbst erst zum Menschen gemacht durch eine Frau, nämlich der Tempelprostituierten Schamkat, die er späterhin verflucht und beschimpft. Jens Harders Palette ist stark zurückgenommen. Ihm genügen wenige Farben: schwarz, weiß, alle hellen Lehm- und Sandfarben. Manchmal wirken seine Bilder wie die Umzeichnungen großer babylonischer Reliefs, die Konturen wie in Stein eingegrabene Keilschrift-Gravuren, in der uns das Epos überliefert wurde, und die Körper wie menschgewordene Felsblöcke, muskulös, gedrungen, voll geballter Kraft, versteift vor Würde und Geltungsdrang. Während Harder sich in der Gestaltung der Helden, Götter und Priester sowie der zahlreichen Tiere (Löwe, Stier, Gazelle, Kamele etc.) am babylonischen Stil orientiert, lässt er bei der Visualisierung des Ungeheuers Chuwawa sowie der Skorpionenmenschen seiner Phantasie freien Lauf. Im Aufbau folgt Harder der vorgegebenen Gliederung in zwölf Tafeln, wobei Tafel XII ein nicht ursprünglich zugehöriger Anhang ist. Für Christen besonders interessant ist die Tafel XI des Gilgamesch-Epos, in der das Vorbild des Noah, Utnapischtim, von der Sintflut und ihrem Ende berichtet: "Wie nun der siebente Tag herbeikam, ließ eine Taube ich hinaus. Doch kein Ruheplatz fiel ihr ins Auge, da kehrte sie um. Eine Schwalbe entsandte ich. Doch kein Ruheplatz fiel ihr ins Auge, da kehrte sie um. Einen Raben entsandte ich. Doch blieb er weg, da er sah, wie das Wasser sich verlief. Er fraß, hob den Schwanz - und kehrte nicht mehr um."
Es war einmal zu der Zeit, als der körperlich Stärkere naturgemäß immer im Recht war ... Vergangenheit? Der Autor und Zeichner ist weit davon entfernt, blinde Heldenverehrung zu betreiben, denn Bezüge zu heute findet Harder zur Genüge, vor allem bei Donald Trump: "Beiden (Gilgamesch und Trump, d.R.) eigen sind ein starkes prahlerisches Element, ein hohes Maß an Selbstüberschätzung und Jähzorn, gepaart mit dem Hang zum Beleidigtsein, zum Selbstmitleid." Aber man muss nicht den amerikanischen Präsidenten bemühen, um Parallelen zu den leicht erregbaren Helden des Altertums zu finden: Ähnlich geltungsüchtigen Gefühlsaufwand beobachtet man auch bei muskelbepackten bärtigen, über und über tätowierten Männern mit Samurai-Knoten auf dem Hinterkopf, die in Tränen und lamentierendes Jammern ausbrechen, wenn der eigene Fußballverein mal verliert ...
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Gilgamesch. Harder, Jens. 2018. 144 S. fb. Carlsen Verlag, Hamburg 2017. EUR 24,99. CHF 35,50 ISBN 978-3-551-76309-9

08.08.2018
Daniela Maria Ziegler
Magritte. Dies ist keine Biografie. Zabus. Illustriert von Campi, Thomas. 64 S. fb. 30 x 22 cm. Carlsen Verlag, Hamburg 2018. EUR 17,99. CHF 25,90
ISBN 978-3-551-76168-2
 
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