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Hannah Höchs Adressbuch

Seit zwanzig Jahren gibt es auf dem Buchmarkt ein neues Genre: Die Edition persönlicher Adressbücher von prominenten Musikern, Autoren, Künstlern und Schauspielern.
Die Ergebnisse sind zugegebenermaßen ein Vergnügen: Wer würde nicht gerne im Adressbuch von Marlene Dietrich, Walter Benjamin oder Frida Kahlo blättern? Die Editionen dieser intimen Zeitzeugnisse befriedigen voyeuristische Lüste, vor allem jedoch bieten sie ein authentisches Zeitbild von Freundeskreisen, Bekanntschaften und Netzwerken. Zusammen mit notwendigen Kommentierungen, Verweisen, Registern und Fotografien bilden die Editionen dieser ephemeren Freundschaftsverzeichnisse faszinierende Hohlspiegel einer Epoche.
Nun also: Hannah Höch. Und, um es vorwegzunehmen: Was für eine Enttäuschung! – Warum? Vor allem, weil das Original überwältigend ist: Es handelt sich nicht um einen sorgsam geführten Taschenkalender mit alphabetischen Einträgen, wie etwa im Fall Walter Benjamins, sondern um eine mit mehreren hundert Zetteln, Visitenkarten, Notizen gespickte Kladde, die die Berliner Künstlerin über 60 Jahre, von 1917 bis zu ihrem Tod 1978 nutzte, anreicherte, ausufern ließ, deren Eintragungen sich ab- und überlagerten wie Sedimente.
Und noch etwas kommt hinzu: Hannah Höch gehört zu den Erfinderinnen der Collage. Als eine der ersten Künstlerinnen weltweit führte sie die Technik des Ausschneidens, Anfügens, Überklebens in die Kunstgeschichte ein und schuf mit ihrer Foto- und Zeitungsmontage „Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands“ 1919/20 die vielleicht bedeutendste Einzelcollage des zwanzigsten Jahrhunderts.
Kann man das Adressbuch, nein: die Adresscollage, dieser Künstlerin lexikalisch edieren, wie ein Notizbuch eines Schriftstellers? Meine Überzeugung: Nein. Auch wenn die Herausgeber sich alle Mühe geben, wichtige Namen auszuwählen, aufzuschlüsseln, mit biographischen Angaben zu versehen; auch wenn durch mehrfarbige Ziffern und Indexierungen versucht wird, Breschen und Wege in den Dschungel dieser dreidimensionalen Collage zu schlagen, erscheint dieses eine Mal die Umsetzung in einem Buch die wenig adäquate. Auch wenn hier ein einzigartiges Kaleidoskop auseinandergenommen und die Bestandteile in eine lexikalische Ordnung gebracht werden, wenn hier ein beispielloses Netzwerk zu Künstlerinnen und Künstlern, Schriftstellern, Sammlern, Kunsthändlern, Ärzten, Anwälten und Nachbarn ausgebreitet wird, scheint mir dieses Mal die online-Publikation die richtigere, die in erstklassigen Fotografien jede einzelne Seite des Originals, jede Vorder- und Rückseite jedes eingefügten Zettels zugänglich und recherchierbar macht.
Möge man das Buch dieses Mal als Appetizer nutzen; denn es macht hungrig, spätestens an einem verregneten Wintertag im digitalisierten online-Adressbuch einer Ausnahmekünstlerin sich zu verzetteln:
http://sammlung-online.berlinischegalerie.de/eMuseumPlus?service=ExternalInterface&module=collection&objectId=170013&viewType=detailView

02.11.2018
Rainer Stamm
Hannah Höch »Mir die Welt geweitet«. Das Adressbuch. Hrsg.: Neckelmann, Harald. 320 S. z.T. fb. Abb. 21 x 15 cm. Transit Verlag, Berlin 2018. EUR 25,00.
ISBN 978-3-88747-364-8
 
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