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Die brennende Kathedrale

Ein Rückblick in eine Zeit in der, anders als heute, künstlerischer, architektonischer Ausdruck nicht mehr primär als gemeinsames europäisches künstlerisches Erbe verstanden werden konnte. So wie nach der Beschießung der gotischen Kathedrale von Reims durch deutsche Truppen seit Anfang September 1914, Krönungskirche und Symbol nationaler religiöser, historischer, kultureller und politischer französischer Identität. Beschädigt, doch anders als die Bibliothek von Löwen 1914 nicht zerstört, versteht sie der Autor als Markstein eines für ihn damals notwendigen, dann jedoch ausgebliebenen Aufrufs der kulturellen Eliten beider Länder zu binationalen Friedensinitiativen. Stattdessen wird die Kathedrale, hier detailliert dokumentiert, fortan in einem erbitterten Medienkrieg zum Instrument nationalistischer Ziele und rigider kultureller Abgrenzung vom jeweiligen Nachbarland.
Eingebettet in die Geschichte des 1. Weltkrieges erschließen sich die Beschießungen zudem als Initialzündung einer Auseinandersetzung um das Deutungsmonopol von historischen und kunsthistorischen Prozessen in beiden Ländern. Wozu, der Verfasser war Gründungsdirektor des Deutschen Forums für Kunstgeschichte in Paris, neben dem hier geschilderten Gegensatz von französischer civilisation und deutscher Kultur, vor allem die Interpretation der Gotik in Frankreich (Ursprung) und Deutschland (Höhepunkt) zählt. Entspann sich doch um sie nach dem September 1914 ein jahrelanger publizistischer Stellungskrieg auch der bedeutendsten Kunsthistoriker beider Seiten, der ebenso wie der reale dieser Zeit ergebnislos endete. Und der letztlich historisch und kunsthistorisch fundierter Kriegspropaganda diente, verursacht und begleitet von frühen französischen Fakten-Fälschungen wie der, die Reimser Kathedrale sei bewußt von Deutschen beschossen worden. Ein Medienkrieg, ergänzt durch fotografisch manipulierte Ansichtskarten des Zustandes der Kathedrale und Plakate mit kulturlosen deutschen Hunnen. Und die deutsche Gegenpropaganda? Defensiv, unbeholfen von Anfang an, stand sie der französischen Propaganda kaum nach und etablierte 1915 mit dem „Kunstschutz“ ein wenig wirksames Instrument um Deutschlands Ruf als Kulturnation zu retten. Ihr Leiter, der beiderseits anerkannte Kunsthistoriker Paul Clemen, legte 1919 einen Abschlußbericht über die Erhaltung, Beschädigung und Zerstörung von Kulturdenkmälern in von Deutschen besetzten Ländern vor. Und wird zudem hier zum prominenten Beispiel dafür, wie nach der ersten Beschießung der Kathedrale bi-nationale wissenschaftliche Kontakte abbrechen, Freundschaften zerbrechen. Sind es doch, auf beiden Seiten, nur wenige Wissenschaftler, Schriftsteller, die sich der allgemeinen Kriegshysterie entziehen können. Romain Rolland versucht es, Albert Einstein gelingt es eindrucksvoll souverän.

Jahrelang diskutiert, wird die dann doch wiederaufgebaute und restaurierte Kathedrale im Sommer 1938 eingeweiht und, wenig bekannt, Reims 1945 zum bewußt gewählten Ort der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands im Westen. Nach 1962 avanciert sie zum zentralen Symbol des deutsch-französischen Versöhnungsprozesses in dem sich, davon lebt dieses Buch, historisch-politische, kunsthistorische und künstlerische Entwicklungen, Akzente nun neu verschränken. Nun auch visuell erfahrbar durch jene bis dahin noch immer notverglasten neun Buntglasfenster, die der deutsche Künstler Imi Knoebel 2011 und 2015 für die Kathedrale gestalten konnte.
Am Beispiel der Kathedrale von Reims seit 1914 einprägsam-anschaulich dokumentierte Darstellung eines lange problemreichen Beziehungsgeflechtes zwischen den kulturellen und künstlerischen Eliten beider Länder.

22.01.2019
Wolfgang Schmidt, Berlin-Friedenau
Thomas W. Gaehtgens. Die brennende Kathedrale. Eine Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg. 351 S., 88 Abb. Gb. C.H. Beck Verlag, München 2018
EUR 14,95
ISBN 978-3-406-72525-8   [C. H. Beck]
 
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