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Aby Warburgs Kulturwissenschaft

Ein schmales fein gestaltetes Buch mit dem Titel ABY WARBURGS KULTURWISSENSCHAFT. Ein Blick in die Abgründe der Bilder: Kurt W. Forster, der, wie der Klappentext mit Fug und zu Recht darstellt, als einer der „weltweit renommiertesten Kunsthistoriker“ gilt, hat mit diesem Buch nicht einfach nur der inzwischen unübersehbaren Literatur zu Aby Warburg (1866-1929) eine weitere Biographie hinzugefügt. Forster, der sich, unter anderem als Herausgeber der „Gesammelten Schriften“ Warburgs (1999) seit Jahrzenten und mit großer Faszination, Hingabe und Nachdrücklichkeit dem Leben und Werk Aby Warburgs beschäftigt hat, legt hier ein Buch vor, das äußerst klug und stilistisch brillant formuliert wesentliche Momente aus dem Leben und den Ideen eines „Psychohistorikers“ erzählt, der heute, knapp 90 Jahre nach seinem Tod, zu den Meisterdenkern der interdisziplinären Bild-Ideen und Kunstgeschichte zählt und der gerade auch unter zeitgenössischen KünstlerInnen einen ungeahnten und nachhaltigen Einfluss ausübt.
Warburg hat in seinem von zeitweilig tiefen persönlichen Krisen erschütterten Leben vergleichsweise wenige Schriften hinterlassen dafür aber umso mehr mit seinem unvollendeten Mnemosyne-Atlas und vor allem auch mit seinen meisterhaften Fähigkeiten zwischen unterschiedlichsten kulturellen Welten, künstlerischen Klimata und zeitgenössischen Ideen hin und her zu schalten, die Kunstwelt bis in die aktuelle Gegenwartskunst beeinflusst. Warburg versucht ein Leben lang ureigenste Erfahrungen mit Bildern, extremen psychischen Zuständen und Erfahrungen an den Grenzen des Wissens nicht nur zu dokumentieren, sondern auch als lebendige Fragen zu überliefern. Zu den großen und überaus spannenden Aspekten in Forsters Buch gehört, dass er die Ambivalenzen, Gefährdungen und existenziellen Erfahrungen Warburgs als Ausdruck seiner Zeit in ebenso sachlicher wie emphatischer Weise darstellt. Warburg gehört heute neben Walter Benjamin, Michel Foucault und anderen Geistesheroen des 20. Jahrhunderts zu den quer denkenden Wissenschaftlern, die nicht bloß Massen von Daten sammelten und neu interpretierten, sondern in ihrer Arbeit auch ein tieferes Verständnis des kollektiven Bildgebrauchs sowie der bedrohten inneren Natur des Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu finden hofften. Warburg verwandelte sich dabei als Ideen- und Kunsthistoriker notgedrungen in einen Anthropologen und Ethnographen, der in der Frührenaissance ebenso beheimatet war wie in den Reservaten der Hopi-Indianer Nordamerikas, deren schriftlose Kultur er auf einer Forschungsreise 1895 fasziniert studierte.
Forster gelingt es in einzigartiger Weise den fragilen und dynamischen Balanceakt zu beschwören, den das Leben und die Wissenschaft für Warburg selbst verkörperte. Heute in Zeiten von Google und Co ist real und möglich geworden, wovon Warburg vor nur 100 Jahren noch träumen konnte: vom permanenten Kreislauf von Bildern und Ideen, in denen sich Vergessen und Wiederkehr, Schmerz und Lust, Nähe und Distanz auf existenzielle Weise gegenseitig steigern. Dass man dieses Buch auch als implizites Portrait der Vorlieben und Lebensfragen ihres Autors mitlesen kann, läßt sich nicht leugnen, drängt sich aber nicht in den Vordergrund.

03.04.2019
Michael Kröger
Aby Warburgs Kulturwissenschaft. Ein Blick in die Abgründe der Bilder. Forster, Kurt W. 255 S. 22 x 15 cm, Gb. Matthes & Seitz, Berlin 2017, EUR 28,00. CHF 34,80
ISBN 978-3-95757-242-4
 
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