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Globale Vorherrschaft und Fortschrittsglaube

Kompakte, gut lesbare Überblickswerke über bestimmte Themen sind seit jeher eine Spezialität der Angelsachsen. Nirgendwo gibt es so gute Einführungen wie auf dem britischen Buchmarkt. Dass man diesem Vorbild in Deutschland nacheifert und Gelehrte aller Art sich neben kolossalen Fachstudien eben auch dem Allgemeinbildenden, Populären widmen ist erfreulich. Noch erfreulicher, wo auch das Ergebnis überzeugt, wie im vorliegenden Falle: Johannes Paulmann hat eine wirklich komplexe, dafür aber gut zugängliche Einführung in die politischen, wirtschaftlichen, religiösen, kulturellen Zusammenhänge im Europa vor dem Ersten Weltkrieg geschrieben. Das Werk soll im Kunstbuchanzeiger deshalb gewürdigt werden, weil es als ideale Ergänzung zu den Kunstgeschichten dienen kann, als Komplementärwerk, dass der (leider allzu oft isoliert betrachteten) Kunstgeschichte ein gesellschaftliches Fundament verleiht, eine Art Folie, vor der die spezifische Entwicklung zu sehen ist.
„Globale Vorherrschaft und Fortschrittsglaube“ ist die Geschichte großer Transformationen in allen Bereichen. Paulmann skizziert zunächst eingehend Phänomene wie Bevölkerungswachstum und Verstädterung, zeichnet die Unterschiede (und deren Zementierungen) der Klassen und die entsprechenden Klassenkämpfe (Sozialfürsorge, Genossenschaftswesen, Kirchenkampf, Arbeitsrecht) nach und kommt folgerichtig auf die Wirtschaft und mit ihr auf die Technik zu sprechen. Danach weitet sich sein Interessenshorizont: auch Religion (im Sinne einer allmählichen Sekularisation in der Moderne, aber auch den Gegenbewegungen) und Kultur (am Beispiel von Literatur, Oper, dann aber auch der entstehenden Massenkultur) stehen im Fokus und werden exemplarisch verhandelt. Erst die letzten beiden Großkapitel widmen sich den typischen Fragen, die man im Buch eines Historikers vermuten würde: Staatsformen und politische Geschichte.
Der Aufbau ist geschickt gewählt, denn tatsächlich wird man dem Kapitalismus in seiner Epoche nur gerecht, indem man Wirtschaft, Technik und Soziales vor Kultur und Politik abhandelt (denn die letzten beiden Punkte leiten sich aus der erstgenannten Trias nur ab – was man freilich schon bei Friedrich Engels nachlesen kann).
Bisweilen hätte man sich mehr Anschaulichkeit, mehr Beispielanalyse gewünscht, denn Paulmann beschränkt sich auf wenige Exempla und sein Text hat eine manchmal allzu luftige Flughöhe. Aber man kann das auch positiv sehen: „Globale Vorherrschaft und Fortschrittsglaube“ ist eben weniger eine Sammlung von Einzelstudien als eben ein Handbuch, das man in vielen Zweifelsfragen zu Europa zwischen 1850 und 1914 konsultieren kann und wo man entsprechend thematisch oder argumentativ weiterverwiesen wird. Um die Verbindung hin zu anderen (von Paulmann ja auch benutzten Studien) zu stärken hätte man sich übrigens einen ausgefeilten Fußnoten- oder Literaturapparat gewünscht. Dass beides fehlt ist aber nicht Schuld des Autors. Es ist der Buchreihenkonzeption des Verlags geschuldet: Paulmanns Buch erschien als Teilband der Serie „C.H.Beck Geschichte Europas“.

02.09.2020
Christian Welzbacher
Globale Vorherrschaft und Fortschrittsglaube. Europa 1850-1914. Paulmann, Johannes. Deutsch. 486 S. mit 1 Karte und 4 SchauAbb.n. 19,4 x 12,4 cm. broschiert. C.H. Beck Verlag, München 2020. EUR 19,95.
ISBN 978-3-406-62350-9   [C. H. Beck]
 
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