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Die Mühlen der Zivilisation

In sieben Kapiteln widmet sich der in Yale lehrende Politologe James C. Scott der Thematik von Sesshaftwerdung und dem Entstehen der ersten Staatsgebilde mit dem Fokus auf dem Vorderen Orient. Dabei gelingt es ihm, viele der bisher herrschenden Ansätze zur Entstehung früher Staaten kritisch zu überdenken und in Frage zu stellen. Es mag dabei ungewöhnlich erscheinen, dass ein solches Buch eben dezidiert nicht von einem Archäologen oder Historiker, sondern von einem Politologen geschrieben worden ist. Gleichzeitig erklärt er schlüssig und selbstreflektierend in der Einleitung „Ein Narrativ in Trümmern: Was ich nicht wusste“ (S. 17), wie es zu diesem Buch kam. Wenngleich der Band sicherlich nicht nur Zustimmung innerhalb der Archäologie erhalten wird, muss zugleich eingeräumt werden, dass auch der Fortgang der Forschung deutlich auf solche mutigen Ansätze von „außen“ angewiesen ist, die das Verständnis befruchten und einen neuen Blick auf Altbekanntes erlauben.
Im Fokus des kleinen Bandes stehen die beiden großen Ereignisse am Anfang der Menschheitsgeschichte, die häufig basierend auf den Arbeiten des australischen Prähistorikers V. Gordon Childe als „neolithische-„ und „urbane Revolution“ umschrieben werden. Wenngleich sich auch in der Archäologie der letzten Jahrzehnte durchaus bereits ein kritischer Blick auf die sogenannte neolithische Revolution durchgesetzt hat, ist es sicher zu begrüßen, dass viele der wichtigen Forschungsergebnisse und Fragestellungen auch nochmals komprimiert einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. So wird etwa im ersten Kapitel neben der Domestikation von Tier und Pflanze, vor allem auch auf die Bedeutung des Feuers und Naturraumes eingegangen. Daneben kann J. C. Scott herausstellen, dass gerade zwischen den ersten Versuchen der Domestikation und dem Entstehen des „Hauskomplexes“ (Kapitel 2) ein weiter und beschwerlicher Weg lag, der vor allem mit vielen Unwägbarkeiten, Verästelungen und Problemen behaftet war.
Doch das neue enge Miteinander von Mensch und Tier dürfte nicht nur von Vorteil gewesen sein. So verbindet J. C. Scott in Kapitel 3 vor allem das gehäufte Auftreten von Zoonosen, vom Tier auf den Menschen überspringende Infektionskrankheiten, die wohl nicht selten epidemische Züge gehabt haben dürften und zum Verlassen, wenn nicht sogar Auslöschen ganzer, sich neu formierender Siedlungsgemeinschaften geführt haben könnte. Bislang lässt sich dies zwar archäologisch nicht eindeutig nachweisen, doch hat die These durchaus auch aufgrund der aktuellen Lage Einiges für sich.
Die sogenannte urbane Revolution, also die auf die Sesshaftwerdung folgende Stadt- und Staatenbildung wird in den folgenden Kapiteln thematisiert. Als einen der gewichtigen Grundpfeiler dieses Prozesses stellt J. C. Scott die Landwirtschaft heraus. Dem Getreide komme dabei besondere Bedeutung zu, da sich sowohl Ernte als auch Erträge dieser Pflanzen besonders gut voraussagen ließen und somit auch für die aufkommende Verwaltung von Interesse war. Als weitere wichtige Marker werden die geographische Lage, sprich in der Nähe von Verkehrswegen (Flüsse) sowie in, für den Landbau günstigen Agrarregionen, wie etwa auf Löß- und alluvialen Böden (S. 134) – kurzgefasst: „ohne Alluvium kein Staat“ (S. 135). Daneben dienen die Konzentration von Arbeitskräften (vorwiegend wohl unter Zwang!), das Einrichten eines entsprechenden Verwaltungsapparates unter Herausbildung der Schrift sowie das Errichten von Mauern ganz konkret dem Aufrechterhalten und Ausbau des neuen Systems.
Vor allem der letzte Aspekt wird abermals im fünften Kapitel etwas detaillierter ausgeführt. War die Stadt und die damit verbundene Ummauerung in der Forschung zumeist als Schutzmechanismus nach außen hin definiert, erwägt J. C. Scott eine weitere Hypothese. So schlägt er vor, sie im Sinne der Bevölkerungskontrolle und somit zum Verhindern einer Flucht der Bevölkerung aus dem Staat zu deuten. In diesem Zusammenhang stellt J. C. Scott, M. Weber und seinem „Beutekapitalismus“ folgend, die Hypothese auf, dass auch in den frühen Staaten die Bedeutung der Sklaverei unter Rückgriff auf Kriegsgefangene eminent wichtig war. Diese These ist sicherlich eine der problematischsten des Bandes, da sie auch in der Archäologie sehr kontrovers diskutiert wird. Bislang fehlen vor allem für Ägypten und den frühen Vorderen Orient gewichtige Hinweise zur Untermauerung. Dabei sei freilich nicht in Abrede gestellt, dass es eine – wie auch immer im Konkreten zu definierende Form von Sklaverei gegeben hat – doch fragt sich welche wirtschaftliche Bedeutung diesen Personen für die frühen Staaten zukam. Inwieweit daher die kurzgefasste These „Ohne Sklaverei kein Staat“ (S. 165) berechtigt ist, muss derweil offen bleiben und erfordert tieferschürfende Forschung. Selbiges trifft sicher auf das von Scott als etwas überspitztes Zwillingsmodell der Barbaren zu, die er kurz im siebten Kapitel unter der These „Das goldene Zeitalter der Barbaren“ umschreibt.
Als eine erste zusammenfassende Schau entwirft Scott zuvor im sechsten Abschnitt eine seiner Hauptthesen: die Zerbrechlichkeit des Konstruktes (Stadt-)Staat. Ein Konstrukt, das sich ständig von Naturkatastrophen, Epidemien, Feinden von außen und nicht zuletzt von innerem Aufruhr in seiner Existenz bedroht gesehen haben dürfte. Davon abgesehen diskutiert er kurz die Bedeutung, die mit den sogenannten „Zusammenbrüchen“ solcher Modelle einhergeht und auf die, so zumindest der häufig zu lesende Narrativ in der Archäologie, „dunkle Zeitalter/Epochen/Zwischenzeiten etc.“ folgen. Völlig zu Recht gibt er hierbei zu bedenken, dass gerade vom Zusammenbruch durch die auf uns gekommenen schriftlichen Belege die Rede ist, die zudem nahezu ausnahmslos Zeugnisse der Elite und hohen Kultur darstellen. Wie der Großteil der Bevölkerung eine solche Situation gesehen hat, ist uns aus den erhaltenen Quellen kaum möglich absichernd zu klären. J. C. Scott sieht in den Zusammenbrüchen der frühen Staaten gleichzeitig richtiggehende Befreiungsschläge, aus denen geradezu Neues und Kreatives entstehen konnte.
Kurzum, J. C. Scott ist ein teils provokantes Buch gelungen, das weit mehr als den von ihm bezeichneten „Erkundungsgang eines Grenzübertreters“ (S. 11) darstellt. Unterhaltend, klar und prägnant stellt er neue Ansätze in den Raum, die dabei helfen können, neue Ideen und Modelle zu entwickeln, die zu den ersten frühen Staaten der Menschheitsgeschichte geführt haben.

02.09.2020
Robert Kuhn
Die Mühlen der Zivilisation. Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten. Das Joch der Sesshaftigkeit. Scott, James C. Übersetzt von Brühmann, Horst. Deutsch. 329 S. 22,2 x 14,6 cm. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2020. EUR 32,00. CHF 42,90
ISBN 978-3-518-58729-4
 
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