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Gefühl, Bild und Form – Édouard Vuillard und die Ästhetik der mémoire

Gemälde des französischen Malers Édouard Vuillard (1868–1940) kamen schon im frühen 20. Jahrhundert in deutsche Museen. Dennoch ist der Künstler hier bis heute nicht so bekannt wie etwa sein Freund Pierre Bonnard oder gar Paul Gauguin aus der vorangehenden Generation. Das liegt sicherlich auch daran, dass Vuillards Kunst eher still ist und er zu Recht als „Intimist“ charakterisiert wurde. Am liebsten beobachtete dieser Maler Menschen seines persönlichen Umfelds in ihrer häuslichen Umgebung bei alltäglichen Verrichtungen oder in ruhigen Momenten der Muse, etwa beim Lesen. Gerade in seinen frühen Schaffensjahren bis 1900 lösen sich dabei die Figuren in den Mustern und Strukturen der Räume und ihrer Möblierung geradezu auf. Räume werden in seinen Bildern zu ineinander geschnittenen Farbflächen und die darin befindlichen Personen zu einem Teil der sie strukturierenden Muster. Zudem lässt Vuillards Faible für ungewöhnliche Farbkonstellationen aus seinen Gemälden der 1890er Jahre fast abstrakte Bilder werden. Seine Werke werden daher von den einen als Weg in eine vom Sujet unabhängige autonome Malerei interpretiert. Andere sehen in ihnen hingegen naturalistisch-erzählend die realen Dramen und Banalitäten des Familienalltags umgesetzt.
Die deutschsprachige Literatur zu seinem Werk ist überschaubar. In den letzten Jahrzehnten erschienen lediglich einige Ausstellungskataloge. Mit dem Buch von Michaela Gugeler liegt nun erstmals eine eigenständige deutschsprachige Monographie vor, die auf der Stuttgarter Dissertation der Autorin basiert. Manche Ausführlichkeit ist diesem akademischen Ursprung geschuldet, aber der Leser wird dafür mit spannenden Einsichten belohnt, die für die Betrachtung der Malerei am Ende des 19. Jahrhunderts von allgemeinem und über Vuillard hinausgehendem Interesse sind. Erhellend ist dabei, dass die Autorin immer wieder von genauen Betrachtungen der Bilder selbst ausgeht. Erst dann stellt sie Vuillards Werke in größere Zusammenhänge der Kunst- und Wissenschaftsgeschichte.
Ein Erklärungsmodell für die Geschichte der modernen Malerei im Sinne einer Entwicklungsgeschichte, wie sie gerade in Bezug auf die Malerei im Frankreich des 19. Jahrhunderts geschrieben werden kann, geht vom direkten und spontanen Erlebnis der Natur aus, das schließlich über den Impressionismus zu einem völlig neuen Bildverständnis geführt hat. Camille Corot mit seinen wunderbaren, vor der Natur geschaffenen Ölskizzen steht am Beginn dieser Entwicklung. Zugleich steht Corot aber genauso für eine andere wichtige Linie der Entwicklung, der Malerei aus der Erinnerung. Diese befreit sich von der konkreten Beobachtung und Corot selbst hat für sie den Titel „Souvenir“ geprägt. Diese Geschichte des künstlerischen Erinnerns verfolgt Gugeler von Corot ausgehend über die Kunsttheorie Baudelaires bis hin zu den Diskursen der französischen Psychologie am Ende des 19. Jahrhunderts. Dem Künstler wird dabei nicht unterstellt, wissenschaftliche Diskurse seiner Zeitgenossen zu illustrieren, wie dies in der Kunstgeschichte der letzten Jahre so gern getan wird. Vielmehr gesteht ihm die Autorin zu, malend zu vergleichbaren Konzepten des Erinnerns und des Gedächtnisses zu kommen, wie sie die Wissenschaft entwickelt hat. Da der französische Begriff der „mémoire“ von einer idealen Zweideutigkeit zwischen Erinnerung und Gedächtnis ist, ließ ihn Gugeler konsequent unübersetzt. Überlagerung und Durchdringung des Gesehenen und Erinnerten ergeben also die eigenartigen Farb- und Formgeflechte Vuillards, die seine Bilder auszeichnen. Diese Erkenntnis bietet ein ganz anderes Verständnis für seine Bilder, als wenn man in ihnen nur einen Schritt zur Abstraktion sieht. Weit über Vuillard hinausgehend bietet das Buch zwar keine einfache, aber eine ungemein anregende Lektüre.

03.12.2021
Andreas Strobl
Gefühl, Bild und Form. Édouard Vuillard und die Ästhetik der mémoire. Gugeler, Michaela. 351 S. 63 s/w, 36 fb. Abb. 24 x 18 cm. Gb. Böhlau Verlag, Köln 2021. EUR 55,00.
ISBN 978-3-412-51958-2
 
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