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Gefährliche Bilder

Industriespionage – das ist ein Topos, der im Zeitalter der Globalisierung seit den 1980er Jahren im Zuge zunehmender Produktionsverlagerung aus Europa gegenüber China immer wieder erhoben worden ist. Er spiegelt die Vorstellung vom Rezeptionsweg als Einbahnstraße, die immer vom Zentrum in die Peripherie, vom Höher- oder Früherentwickelten zum Nachzügler am Rande des Weltgeschehens verläuft. Es ist dies ein paternalistisches (mittlerweile vielfach kritisiertes und widerlegtes) Konzept. Solche Denkmuster sind den Europäern schon deshalb vertraut, weil sie in früheren Jahrhunderten selbst die Industriespionage zur Perfektion getrieben hatten. Man denke an die französische Luxusgüterindustrie unter Ludwig XIV.
Indes war die frühe Industriespionage oft nicht von Diplomatie zu unterscheiden – und meist auch nicht von ganz unschuldiger Kunst. So kam es im 18. und 19. Jahrhundert öfter vor, dass Künstler, die zeichnend und malend durch die Lande zogen, festgesetzt und mit dem Vorwurf konfrontiert wurden, sie seien in Wirklichkeit: Spione.
Einen grandiosen, faszinierenden Gegenstand hat die Kunsthistorikerin Ulrike Boskamp da erschlossen. Er sprengt die Grenzen der Bildbetrachtung und erfordert einen weiten, offenen Forscherblick. Boskamp dechiffriert Topoi der Künstlerviten (die „Verhaftung“ als biographische Setzung wurde gern ausgeschlachtet, weil sie Bedeutung suggeriert). Sie zeigt, wie die Vermessung von Landschaften, die Überwachung von Grenzen, die Sicherung von Terrain funktionierte, welche künstlerischen Methoden das Militär selbst anwandte. Hochspannend wird es dort, wo man erfährt, wie scheinbar unschuldige Landschaftsskizzen durch bestimmte topographische Eigenheiten derart „angereichert“ sind, dass sie mit parallel erstelltem Kartenmaterial abgeglichen werden können, sodaß man tatsächlich strategisch relevante Informationen daraus generieren kann. „Normale“ Künstler freilich haben solche Zeichnungen nicht angefertigt. „Normale“ Spione hingegen schon. Und da sich beide in ihrer Tätigkeit inmitten lieblicher oder erhabener Landschaften nicht unterscheiden ließen, haben denn „normale“ Militärs denn oft ihre Zweifel an der Tätigkeit dieser Leute gehabt und gehandelt, wie sie es für „normal“ hielten und gelernt hatten. Dann mussten die Artisten über den Weg der Botschaften ihrer Herkunftsländer versuchen, ihre Unschuld zu beweisen. Was oft zu – ebenfalls ausführlich geschilderten – diplomatischen Verwicklungen führte.
Boskamp verfolgt ihre Geschichten – über 200 Berichte hat sie ausgewertet! – im nächsten Schritt weiter und zeigt auf, wie sie auch mediale Verbreitung fanden (die Presse liebte solche Klatsch- und Krawallgeschichten schon vor 200 Jahren). Als Karikaturen, in Romanen, Zeitschriftenartikeln und Zeitungsberichten. Klar, hatten diese Räuberpistolen etwas Sensationelles. Sie sind, muss man sagen, oft gar spannender als die fraglichen Kunstwerke selbst. Kurzum: Boskamp legt hier das Material für eine „andere“ Kunstgeschichte des 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts vor, das das Nachdenken über Bilder auf ein vollkommen neues Level befördert. Bildwissenschaft vom Feinsten. Und stellenweise spannend wie ein Thriller angesiedelt irgendwo zwischen William Hogarth und Camille Pissarro, zwischen James Bond und Austin Powers.

16.01.2023
Christian Welzbacher
Gefährliche Bilder. Reisende Zeichnerinnen und Zeichner unter Spionageverdacht. Boskamp, Ulrike. Deutsch.472 S. 50 Abb.125 fb. Abb. 24x 17 cm. De Gruyter Verlag, Berlin 2022, EUR 69,95.
ISBN 978-3-11-069952-4
 
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