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Zur Situation der Couchecke – Martin Warnke in seiner Zeit.

"Martin Warnke war der bedeutendste Kunsthistoriker seiner Generation." So beginnt Wolfgang Kemp im Dezember 2019 in der ZEIT seinen Nachruf auf den damals gerade verstorbenen renommierten Kunsthistoriker. Diese 200seitige Biographie, die der Oldenburger Ideenhistoriker Matthias Bormuth nun zu Martin Warnke vorlegt, scheint mit leichter Hand geschrieben und unterschreitet nicht ihr offensichtlich angestrebtes hohes Niveau: sie zeichnet präzise die wichtigen Stationen in Warnkes Leben und Professorenkarriere nach, Nah- und Fernaufnahmen einer intellektuellen Entwicklung eines Kunsthistorikers, der wie kein anderer seiner Fachkollegen seit den 70er Jahren in der BRD die deutsche Kunstwissenschaft von einer traditionsverhaftet-konservativen Disziplin in eine sich als politische Wissenschaft verstehende Kunstgeschichte verwandelte. Der mit Adornos Ästhetischer Theorie offensichtlich gut vertraute Warnke sprach 2005 in einem kleinen, bis heute wenig beachteten, Band "Bildwirklichkeiten" von seinem paradoxen Bestreben, welches "die Kunst der Gesellschaft gegenüberstellt, - durchaus in dem Doppelsinne, dass sie sich dieser verpflichtet und, wo sie gelungen ist, zugleich verweigert."(Martin Warnke, Bildwirklichkeiten, Göttingen 2005, S. 7).

Die von Matthias Bormuth vorgelegte intellektuelle Biographie ist dabei in jeder Hinsicht ein vorbildlich gelungenes Projekt: unaufgeregt im Ton, basierend auf eigenen Interviews mit Warnke und zugleich pointiert rekapituliert der Autor, die verschiedenen Lebensphasen Warnkes, angefangen von seiner Kindheit als Sohn eines deutschen Pfarrers in Brasilien, über das Studium in München und Berlin, sein legendärer Auftritt als scharfer Kritiker der konservativen Kunsthistorikergeneration auf dem Kunsthistorikertag 1970 in Köln bis zu seinen diversen Stationen als erfolgreicher Professor für Kunstgeschichte in Marburg (1971 - 1978) und ab 1979 in Hamburg. Nicht nur die enorme Spannbreite seiner vorgelegten Publikationen, aus denen vor allem seine großartige Studie über den Hofkünstler (1996) herausragt und sein großes Engagement für Wiederentdeckung von Leben und Werken Aby Warburgs, verdeutlichen heute Warnkes intensiven, bis heute spürbar nachwachsenden Ruhm.

Im Unterschied zu anderen Größen seiner Disziplin entwickelte Warnke keine eigene Methode oder Generalthese, sondern praktizierte eine eher eine ebenso eigenwillige wie auch systemisch durchaus oszillierende Art einer verdeckten Kunstbeobachtung, die mit sehr wenigen aber dafür umso originelleren Fragen sowie der Verwendung neuartiger soziologischer Begrifflichkeiten plötzlich neue sozialhistorisch grundierte Zugänge zur Kunst- und Lebenskultur erschloss. Als erster Vertreter seiner Zunft operierte Warnke etwa mit der machtvollen, weil unbestimmten Kategorie des "Anspruchsniveaus", das ihm die Gegebenheit bot, die alte Frage nach der Form als neues Problem einer politisch-soziologischen Beobachtungspraxis zu rekonstruieren; Warnke gilt dabei nicht nur als Autor maßgeblicher Untersuchungen zu Rubens und Velasquez und zur mittelalterlichen Architektursoziologie, sondern vor allem vor allem auch als Wegbereiter der sogenannten politischen Ikonographie sowie auch als eigensinniger Essayist. In einem inspirierenden eigenen Kapitel beleuchtet Bormuth die Genese des 1978 erschienen legendäre Essays "Zur Situation der Couchecke" - ein immer wieder zitiertes Meisterwerk subtil ironischer, impliziter "Abrechnung" auch mit dem bundesdeutschen Zeitgeist des XX. Jahrhunderts. Gegen das öffentliche Leben könne gerade der private Raum der Couchecke als "Reservoir sinnträchtiger Impulse" (S. 122) verstanden werden - so die aktuell-zeitlose Deutung Bormuths. Warnkes Credo, die Disziplin der Kunstgeschichte als "Moment ständiger Veränderung" zu praktizieren, hat wohl auch die Darstellung seines Biographen inspiriert.

Martin Warnke betrieb, so wird in dieser Biographie auf luzide Weise deutlich, eine auf die Betrachtenden vorbildhaft nutzbar ausgerichtete Kunstgeschichte, deren implizite, zeitlose wie auch zeitbedingte Sinngehalte Warnke mit Vorliebe in seine geistesgegenwärtigen Kunstbeobachtungen verschleiernd einarbeitete. Wenn man Warnke den Fürstenhof als "Inkubator künstlerischer Freiheit" (Wolfang Kemp, s.o.) verstehen konnte, in dem Fürst und Künstler je eigene Ermessensspielräume inne hatten, so kann Bormuths Biographie entsprechend als implizite Antwort auf eine Frage gelesen werden, die Warnke in seinem Hofkünstler wohl lebenslänglich bewegte: "Was darf der König nicht erkennen? Sind die Hofkünstler wirklich knechtisch gesonnen und herrschergläubig, wie die Kunstgeschichte immer zufrieden registriert? (S. 67)

Mit Warnkes Impulsen lässt sich heute weiter fragen: Sind nicht die AkteurInnen der gegenwärtig aktiven Zivilgesellschaft, mit anderen Worten: sind nicht w i r, die heute ungezählten anonymen Kunst-Fans, nicht in Wahrheit die neuen Könige einer nächsten Gesellschaft? Und ebenso: welche Macht, welche Optionen und Visionen halten eigentlich w i r, die passionierten Kunstfans, eigentlich mit unseren eigenen Kunstansprüchen in der eigenen Hand? Warnkes lebenslang verfolgter höchster Anspruch auf Erkenntnis zwischen Kunstansprüchen und Gesellschafts-erfahrungen wird in Bormuths Untersuchung auf eine hellwache Art wiederbelebt - und zugleich - was für ein selbst erfahrbares Moment geglückter Bildung - als jetzt aktualisierbare Begegnung mit Kunst implizit erkennbar.

28.02.2023
Michael Kröger
Zur Situation der Couchecke. Martin Warnke in seiner Zeit. Bormuth, Matthias. 2023. 160 S. 22,8 x 16,4 cm. Berenberg Verlag, Berlin 2023. EUR 25,00.
ISBN 978-3-949203-24-4
 
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