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Objekt der Rendite |
Die Geschichte wiederholt sich – aber nicht als Farce, sondern als Tragödie: diesen Eindruck kann man bei der Lektüre von Andrej Holms gelungener Einführung in die „Wohnungsfrage“ bekommen. Bereits im 19. Jahrhundert war das Wohnen zur Ware und damit zum Gegenstand kapitalistischer Spekulation geworden. Mit dem Ergebnis, dass die unteren Bevölkerungsschichten in Slums und Elendsquartieren, überfüllten und überteuerten Wohnungen der Großstädte unterkommen mussten, während bessergestellte ihr Wohneigentum gewinnbringend verkaufen konnten. Der „Markt“ produzierte für die renditeorientierten Marktteilnehmer – und nicht für die Menschen, die ihr Aus- und Unterkommen finden mussten. Nach 50 Jahren Neoliberalismus in den Ländern der EU und in den USA sehen wir heute eine nahezu analoge Entwicklung zu dem, was man um 1890 „Gründerzeit“ nannte: Bezahlbarer Wohnraum ist rar, es gibt hohe Leerstände, die Zuschnitte der Wohnungen gehen an den gesellschaftlichen Bedarfen vorbei, die Kosten explodieren, die Versiegelung von Flächen nimmt immer weiter zu. Holms Buch ist, leider, von extrem hoher Aktualität.
Ausgehend von Friedrich Engels klassischem Text „Zur Wohnungsfrage“, 1872/73 als Artikelserie in der Zeitung „Volksstaat“ erschienen, unterzieht Holm die gegenwärtige Wohnungspolitik einer kritischen Revision. Das Buch ist vor allem deshalb so gelungen, weil es Stück für Stück, gut lesbar und anschaulich, die vielen verschiedenen Aspekte dieses Komplexes vorstellt und einordnet. Welche Gesetze liegen dem Bau und der Beschaffung von Wohnraum zugrunde? Welche Rolle hat hier der Staat, wenn er nicht regulierend eingreift? Wenn er, statt selbst als Bauherr aufzutreten, über die längste Zeit in Form von Subventionen die Privatwirtschaft finanziert, damit diese billige „Sozialwohnungen“ bauen, die nach 20 Jahren in den freien Markt überführt werden? Wann und warum wurde der soziale Wohnungsbau aufgegeben? Wann die Gemeinnützigkeit im Wohnungsbau abgeschafft (unter Helmut Kohl, dessen Regierung auch die Privatisierung öffentlicher Wohnungsbestände, etwa von Beamtenwohnungen eingeleitet hatte)? Was hatte das alles für Konsequenzen?
Holm hat sein Buch übersichtlich gegliedert, er schreibt zugänglich – und entsprechend wünscht man dem Band ein breites Publikum. Vor allem weite Teile der FDP und der CDU sollten hier einmal kurz nachlesen, wofür sie eigentlich stehen. Aber auch die Opfer der Politik dürften nach der Lektüre des Textes sehr gut informiert, um auf diese Weise die eigene Wohnsituation (und die der Nachbarn) besser einschätzen zu können.
Nach Kapiteln über Engels, über die Wohnungsbaupolitik der „goldenen Jahrzehnte des sozialen Wohnungsbaus“ in der Weimarer Republik und in den 1950er Jahren, einem Blick auf die DDR und schließlich die Phase der Deregulierung seit den 1980ern kommt Holm auch auf die Möglichkeiten zu sprechen, wie sich die Menschen gegen die Vermarktungsstrategien von Wohnraum wehren. Initiativen wie „Deutsche Wohnen und Co. Enteignen“ kommen zu Wort, aber auch das Thema Baugruppe (allerdings auf Besserverdiener beschränkt) oder Genossenschaften spielt eine Rolle. Dass es sich hierbei um Nischen innerhalb des kapitalistischen Systems handelt, die nicht grundsätzlich an die Ursachen der Misere rühren – und dass die Bekämpfung und Abschaffung dieser Ursachen letztlich nur durch einen Systemwechsel herbeigeführt werden kann: daraus macht Holm keinen Hehl. Ein Buch mit einem klaren Standpunkt also. Und gerade aus diesem klaren Standpunkt heraus so brauchbar.
06.08.2024 |
Christian Welzbacher |
Objekt der Rendite. Zur Wohnungsfrage, oder: was Engels noch nicht wissen konnte. Andrej, Holm. 216 S. 20 x 12,5 cm. Dietz Verlag, Berlin EUR 16,00. |
ISBN 978-3-320-02388-1
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