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Poetic home

Die Begriffsgeschichte ist verräterisch: Vor 1800, zu Zeiten der „Revolutionsarchitekten“ und der ersten Mietshäuser der Neuzeit, galt der Begriff ‚house‘ für Behausung und Wohnung, erst nach 1800 beginnt sich ‚home‘ als Begriff durchzusetzen. Das 19. Jahrhundert führt dann zum ‚homely home‘, das 20. zu ‚interieurs‘. Stefan Muthesius bindet diese Begriffsentwicklung in sein Standardwerk „The Poetic Home“ ein, Leitmotiv wird dieser Begriff („catchphrase“): Das 19. Jahrhundert war mit einer zunehmenden Rasanz von der Verbürgerlichung der Wohnformen erfasst, die in ganz Westeuropa und Regionen der USA nach normativen Vorbildern verlangten. Diese waren von Beginn an und bis in die 1880er Jahre hinein französischen Lebensvorstellungen und auch den dortigen Vorstellungen der Innenraumdekoration verpflichtet: Das Empfangszimmer, der Salon, das Boudoir oder das Herrenzimmer entstammen Wohnformen, wie sie sich im 18. Jahrhundert für das französische Großbürgertum aus ursprünglich adeligen Vorgaben heraus entwickelt hatten, nun aber für alle im weitesten Sinn bürgerlichen Schichten auf unterschiedlichem materiellen und qualitativem Niveau umgesetzt werden mußten. Diese entwickelten sich stilistisch auf sozial abgestuftem Level in den 1860er Jahren. Wenig später wurden die drei Faktoren, die für Stefan Muthesius „Komfort“ ausmachen, egalisiert bzw. durch massenhafte Verbreitung Allgemeingut: Bequemlichkeit, Licht und Wärme.
Die Bequemlichkeit wird in den 1830er Jahren durch die Einführung der Sprungfeder zu einem Kriterium von Sitz- und Liegemöbeln, das Licht wird um 1865 mit der Einführung des Gaslichts zu einer immer greifbaren und gleichbleibend hellen Qualität, die Wärme wird um 1870 mit Erfindung des Thermostats abrufbar und regulierbar. Das Mietshaus normiert zudem die Wohnmöglichkeiten und –vorstellungen auf unterschiedlichem sozialem Niveau, aber im immer gleichen Zuschnitt. Repräsentanz und Gemütlichkeit werden Faktoren, die es in dieser Verbindung bis dahin nicht gegeben hat. Das Thema könnte also zur Trockenheit verleiten, - ihr Gegenteil nimmt mit diesem Buch Gestalt an: Opulenz von Aufmachung und Inhalt, märchenhaft anmutende Interieurs und Prachtzimmer, die der horror vacui zum Bersten bringt, reihen sich hier aneinander. Der Innenarchitekt, der ‚upholsterer‘ ist das Genie der Stunde: Er legt anhand vergleichender Tabellen fest (so S. 131), wie Holzwerk, Tapete oder Stuckfries farblich aufeinander abzustimmen sind, wobei Dunkles dominiert.
Dann setzt um 1880 die Internationalisierung des Designs ein: Die Metropole Paris und der bindende französische Geschmack werden durch englische, aber auch Wienerisch/Münchnerische Vorbilder verdrängt. Mit diesen geht eine Reform des Interieurs, eine Reduzierung seiner Accessoires und eine Entschlackung des verbleibenden Haus- und Zierrats einher. Der Gedanke, dass Moderne erst im 20. Jahrhundert einsetzt, die verbrauchte These vom Beginn des Funktionalismus nach 1910 und Noch-Nicht-Moderne nach 1890 wird hier endgültig begraben.
Gegen sie hatte schon Posener polemisiert. Hier, um 1890, setzt im Wohnbereich dasjenige ein, was wir seit Posener als „die Modernität des Wilhelminismus“, also als eigentlich vorgezogene „Moderne“ kennen.

Was aber meint der Begriff ‚poetic home‘? Zunächst wohl eine Rückbesinnung auf literarische Muster, die unser Wohnen idyllisch, heimelig, manchmal auch bedrückend gemütlich machen. Muthesius zieht hierzu vorbildhaft z. B. Illustrationen zu den Märchen der Gebrüder Grimm heran. Später wandelt sich dieser Bezug in Richtung auf eine stärker folkloristische Rückbesinnung, wie sie in Schweden mit dem Namen Carl Larsson etwa verbunden ist. (S. 296) Das Heim wird farbig (1826 werden die synthetischen Farben erfunden) und es wird einheitlich durchgestaltet (um 1850 kommt die „Garnitur“ auf). All das ist anregend und zutiefst kompetent dargestellt, ohne zu langweilen oder ins Fachgelehrtentum abzugleiten. Muthesius weiß es einfach und legt brillant und klar dar. Dennoch ist dies nicht nur ein opulenter Bildband und nicht nur eine wissenschaftliche Darlegung des gehobenen bürgerlichen Wohnens zwischen Biedermeier und Jugendstil. Es ist beides zugleich und darüber hinaus ein Buch, das zum Nachdenken darüber veranlasst, was Wohnen uns angesichts von soviel gezielter Reflexion unserer Vorfahren bedeutet, ohne in „Schöner Wohnen“ umzukippen. Ein Prachtband über ein prächtiges Zeitalter, das Beeindruckendste aber ist der stets dichte, von großer Kenntnis getragene Text.

02.01.2011

Jörg Deuter
Stefan Muthesius. The poetic home. Designing the 19th. Century Domestic Interior. 350 Pages. 356 Ill. 120 in colour. Thames & Hudson, London 2009. £ 34,00 [ca. EUR 41,00]
ISBN 978-0-500-51419-1
 
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