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Das ägyptische Alte Reich

Die in der Reihe der Göttinger Orientforschungen herausgegebene Arbeit ist zugleich die 2017 an der Humboldt-Universität Berlin erfolgreich abgeschlossene Dissertation von Vera Blumenthal, in der sich die Autorin völlig unverblümt und nüchtern der Ereignisgeschichte des Alten Reiches widmet. Gerade in Hinblick auf die vielen Übersichtswerke zur ägyptischen Geschichte mag man zunächst fragen, warum man nun noch einen Band zur Ereignisgeschichte des Alten Reiches benötigt, in dem erneut von den großen Errungenschaften des Pyramidenbaus und seiner Machtsymbolik die Rede ist. Doch gerade dies tut der Band erfreulicherweise nicht und so wird der Leser mit einer Arbeit konfrontiert, die einen erfrischend anderen Fokus setzt. Unter Anwendung der Methodik der Geschichtswissenschaft nähert sich V. Blumenthal dezidiert kritisch den bislang als untrügliche Quellen für die Ereignisgeschichte interpretierten Aspekten des Alten Reiches, einer Zeitperiode, von der man nach Ausweis der meisten Fachbücher glauben möchte, nahezu alles sei bereits gesagt und bekannt.
In 9 Kapiteln nähert sich die Ägyptologin behutsam den einzelnen bislang in der Fachwissenschaft diskutierten Quellen und Aspekten dieser hochspannenden Ära. In der Einleitung werden der Aufbau und das Anliegen der Arbeit, der Forschungsstand sowie der Methodenbaukasten kurz umrissen, um sich schließlich im 2. Abschnitt bereits der wesentlichen Frage „Was ist das Alte Reich?“ zu widmen. Für diese Frage werden vor allem die zeitgenössischen Quellen gegen weitaus jüngere Textzeugen abgewogen.
Ein wichtiger Abschnitt ist sicherlich das 3. Kapitel zum Thema Quellenkritik, der einen ganz wesentlichen Hintergrund für die Arbeit darstellt. Hier werden die altägyptischen Quellen nach Thema geordnet kurz vorgestellt: Annalen (S. 44–47); Ächtungstexte (S. 48–49), administrative Dokumente (S. 49); Autobiografien (S. 49); Literatur (S. 49–53); Pyramidentexte (S. 53) sowie Titel und Architektur mit Fokus auf die Frage nach der Bedeutung der Pyramiden als politische „Statements“.
Im 4. Abschnitt diskutiert V. Blumenthal die einzelnen Theorien zur Abfolge der Könige des Alten Reiches, die gleichfalls gerade zum Ende der Periode nicht ganz unumstritten sind. Daran knüpft letztlich auch der 5. Abschnitt, in dem die Frage nach dem Beginn des Alten Reiches gestellt wird. Während wie selbstverständlich zumeist mit König Djoser in der 3. Dynastie die historische und damit die Zeit des Alten Reiches eingeleitet wird, ist diese These bei weitem nicht unumstößlich gesetzt. V. Blumenthal kann in der Arbeit trefflich herausarbeiten, dass Vieles noch im Unklaren liegt. Letztlich stützt sich die Autorin auf kulturhistorische Phänomene, wie etwa den Beginn des monumentalen Steinbaus, den Gebrauch der Schrift und einen deutlichen Gegensatz zwischen Residenz- und Provinzkultur (S. 96). Das hierbei mit entsprechenden Übergängen gerechnet werden muss, die wir teils auch archäologisch bislang kaum sicher fassen können, ist hierbei selbstverständlich. Gerade die letzte Frage ist freilich bislang auch archäologisch mehr als unzufrieden stellend beantwortet worden, was nicht zuletzt an fehlenden archäologischen Hard-facts liegt. Bislang sind viel zu wenige Siedlungen im Niltal dieser Zeit bekannt, als dass weitreichende Schlüsse zur Frage nach Residenz, Siedlungsstrukturen etc. auch nur annähernd beantwortet werden können. Eine kurze Bemerkung zur Frage nach der Entwicklung der Administration sei an dieser Stelle kurz eingeworfen: Die ersten Hinweise auf den Titel des Wesirs dürften wir unzweifelhaft spätestens mit der Regierungszeit des Nar(-mer) zu Beginn der 1. Dynastie greifen können und nicht, wie V. Blumenthal meint, in der späten 1. Dynastie (S. 95).
Im 6. Abschnitt widmet sich die Autorin der Charakterisierung einzelner Könige in zeitgenössischen und späteren Quellen und zeigt hierbei nochmals eindrücklich auf, wie gering bis marginal unser Wissen zu den einzelnen Personen (S. 97–103), jenseits ihrer Namen und Hauptmonumente, eigentlich ist, was letztlich jegliche „Ereignisgeschichtsschreibung“ ad absurdum führen muss.
Abschnitt 7 ist der Thematik des Pyramidenbaus und der Frage nach der Wahl des Begräbnisplatzes gewidmet, eine Frage, die häufig mit weiterführenden Fragen, wie dem Ort der Residenz etc., begleitet wird.
Dem in vielen Überblickswerken zentralen Thema der Außenpolitik nähert sich V. Blumenthal gleichfalls skeptisch und kritisch in Hinblick auf die tatsächlich vorliegenden Quellen und der Fragen nach ihrer tatsächlichen Aussagekraft. So wird z. B. die Anwesenheit von ägyptischen Steingefäßen in der Levante völlig zu Recht kritisch auf den hierzu geführten Beleg einer gesteigerten Aktivität seitens Ägyptens angesprochen (S. 149–150).
Im Abschlusskapitel wird schließlich eines der wohl schwierigsten Aspekte des Alten Reiches, nämlich die Frage nach dem Untergang am Ende der 6. Dynastie, diskutiert. Hierbei stellt V. Blumenthal die bisher in der Literatur diskutierten Thesen gegenüber und versucht hierdurch deren Plausibilität zu analysieren und abzuwägen. Dabei kann sie einige der bisher gängigen Thesen, wie etwa die von R. Müller-Wollermann, als eher unwahrscheinlich widerlegen, während durchaus überlegt werden muss, ob nicht mehrere Aspekte gemeinsam – darunter auch klimatische Faktoren (z. B. K. W. Butzer; B. Bell) – eine Rolle gespielt haben könnten. Gerade der letzte Aspekt, der lange Zeit sehr kritisch betrachtet wurde, vermag durch neue Forschungen auch vulkanischer Aktivitäten etwas näher in den Blick zu geraten.
Es folgen eine kurze Conclusio mit den wichtigsten Ergebnissen der Arbeit, ein Anhang mit einigen der wichtigsten Schriftquellen (etwa der Annalenstein, Felsinschriften etc. in Bild, Umschrift und Übersetzung), des Weiteren eine Liste arabischer Toponyme und Eigennamen sowie tabellarische Übersichten, ein umfangreiches Literaturverzeichnis und ein Index. Allein bei den Übersetzungen findet sich ein Zwischenschritt, der zunächst etwas umständlich erscheinen mag, ansonsten aber durchaus einige Quellen nochmals in Wort und Bild „sprechen“ lässt.
Jeder Leser, der sich von diesem Buch erhofft, endlich die Wahrheit über die einzelnen Könige des Alten Reiches und die politische Geschichte zu erfahren, wird enttäuscht werden. Doch er bekommt etwas viel Wertvolleres mit diesem Band geboten: ein reales Bild zum Forschungsstand, das einen kritischen Blick auf die zumeist allzu schwammige und verschwimmende Präsentation von Fakten und Erdachtem bietet. Es erfordert Courage, sich mit der Warnung vor vorschnellen Interpretationen gegen die Sichtweise vieler Kollegen zu stellen, deren Basis zumeist auf recht tönernen Füßen steht. Dies mag für manchen Geschmack vielleicht auch stellenweise zu negativ ausfallen, doch bedarf es gleichsam zu Recht des kritischen und nüchternen Blickes auf die tatsächlich vorliegenden Fakten. Dabei versteht sie es nicht nur, mit traditionellen Bildern der ägyptologischen Geschichtsschreibung zu brechen, sondern auch darüber hinaus Fragen zu stellen, die einen neuen Weg für die kommende Forschung und unsere Aufgabenpakete für die nächsten Jahre umreißen.

06.1.2020
Robert Kuhn
Das ägyptische Alte Reich. Diskussionen zur „Ereignisgeschichte“ der 3. bis 6. Dynastie. Göttinger Orientforschungen, IV. Reihe: Ägypten (66). Blumenthal, Vera. 265 S. 19 Abb., 8 Tabellen, 2 Diagramme. 24 x 17 cm. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2019. EUR 64,00.
ISBN 978-3-447-11203-1   [Harrassowitz Verlag]
 
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