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Marcel Proust und die GemÀlde aus der Verlorenen Zeit

I: Entrée

Die Vielfalt der KĂŒnste hat wohl in kaum einem Werk der französischen Literatur eine so ergiebige Resonanz erfahren wie in dem aus sieben Teilen bestehenden Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ des Schriftstellers Marcel Proust (1871-1922). Dieses Werk wird, nach dem französischen Titel, „À la recherche du temps perdu“, abgekĂŒrzt auch „Recherche“ genannt. Es ist nicht nur eines der großen Werke der literarischen Moderne und als solches ein Kunstwerk, sondern auch ein Buch enzyklopĂ€discher PrĂ€gung, in dem alle KĂŒnste aufgerufen werden. Behandelt werden raum- und zeitĂŒbergreifend alle Kunstepochen und Stile, wobei drei KĂŒnste, Musik, schöne Literatur und Malerei, besonders hervorgehoben werden.

Die Liste begeisterter Leser der „Recherche“ ist lang. Einer davon ist der Autor und Maler Eric Karpeles (* o.A.). Der Autor hatte die Idee, die in der „Recherche“ angefĂŒhrten „GemĂ€lde“ ausfindig zu machen und sowohl die Textpassage, in der die „GemĂ€lde“ erwĂ€hnt werden als auch eine Abbildung des „GemĂ€ldes“ abzudrucken. Entstanden sind im Hauptteil des Buches, das mit „Marcel Proust und die GemĂ€lde der Verlorenen Zeit“ betitelt ist und 2010 beim Verlag DuMont erschien, Text-Bildpaarungen, die von einer Einleitung und einem dritten Teil, der ein Register und Anmerkungen enthĂ€lt, umrahmt werden.

II: Konzept und Rezept

In seiner Einleitung kĂŒndigt Karpeles ein großes Vorhaben an. Er beansprucht mit dem zweiten Teil des Buches ein Werkverzeichnis der von Proust in der „Recherche“ genannten „Bilder“ vorzulegen. Im Vorwort wird dieser catalogue raisonnĂ© „Totalansicht“ genannt. Avisiert ist eine lĂŒckenlose und chronologische Abbildung der in der „Recherche“ erwĂ€hnten „GemĂ€lde“ in der Reihenfolge ihres Vorkommens im Roman vorzulegen. Ferner beansprucht Karpeles mit dem avisierten „Katalog“, die „Recherche“ zu ergĂ€nzen. Zudem geht der Autor davon aus, dass diese Form fĂŒr ein allgemeines Publikum geeignet sei, um die „Recherche“ zu verstehen.

Mit seiner EinfĂŒhrung verließ Karpeles sein Publikum jedoch alsbald, da er in dieser viel und wenig zugleich und in unterschiedlichen Tonlagen erzĂ€hlt. So steht eine sehr instruktive Passage zu zwei kategorial verschiedenen Formen literarischer Bildbeschreibungen neben der ErwĂ€hnung von Prousts Lieblingsmalern. Es folgen AusfĂŒhrungen zu Prousts VerhĂ€ltnis zu Kunstkritikern seiner Zeit, um dann wieder auf fast wissenschaftlich zu nennende Passagen zu formalen und stilistischen Elementen der „Recherche“ umzuschwenken, die ihrerseits abgelöst werden durch eine Schilderung von Prousts karger Wohnungseinrichtung oder Anmerkungen zu einigen Figuren des Romans bzw. dazu, nach welchen realen Vorbildern diese modelliert wurden. Es liegt ein mixtum compositum vor, das das VerhĂ€ltnis von Kunst und Leben in der „Recherche“ streift.

# 1: Die „Recherche“

Diese eher punktuellen Betrachtungen mögen Kenner von Proust etwas abgewinnen, fĂŒr ‚sein‘ Publikum fĂŒhrt dieses Flanieren durch den Roman jedoch in eine Sackgasse. Wie die Themen der „Recherche“, Kunst – Zeit – Erinnerung, zusammenhĂ€ngen und in das allgemeine Thema, die Geschichte des Lebens der zentralen Figur Marcel, die dem Roman sowohl eine zeitliche und rĂ€umliche Einheit als auch seine Beweglichkeit verleiht, eingebettet sind, wird nicht erlĂ€utert, ja, die Herzkammer der „Recherche“, die unwillkĂŒrliche Erinnerung, wird mit keinem Wort erwĂ€hnt. Diese ist ja nicht nur Inhalt der „Recherche“, sondern auch deren Gestaltungsmittel und essentielles Moment in deren Aufbau und Form. Die Kunst wiederum konzipierte Proust als Medium dieser Form der Erinnerung, die auch ‚mĂ©moire involontaire‘ genannt wird.

Das eigentlich ErklĂ€rungsbedĂŒrftige, Prousts VerhĂ€ltnis zu „GemĂ€lden“ und dazu, welche Rolle dier „GemĂ€lde“ in der „Recherche“ spielen, wird von Karpeles nicht erlĂ€utert, sondern kurz mit „komplex“ etikettiert. Diese Charakterisierung ist nicht falsch, ohne ErklĂ€rung jedoch, bietet er dem Leser keine Hilfestellung, zumal die „Recherche“ jeden Leser vor besondere Herausforderungen stellt. Der Grund dafĂŒr liegt in Prousts Imaginationskraft, die das Maß an FiktionalitĂ€t, das Lesern aus anderen literarischen Werken bekannt ist, bei weitem ĂŒbersteigt. Karpeles erwĂ€hnt lediglich einige Möglichkeiten des von Proust raffiniert konzipierten VerhĂ€ltnisses von Realem und Fiktiven en passant, ohne, bezogen auf die Kunst, klar zu benennen in welch unterschiedlichen Konstellationen, MischungsverhĂ€ltnissen und graduellen Abstufungen reale und fiktive KĂŒnstler und Kunstwerke bzw. Ausstellungen in der „Recherche“ auftreten. Da Karpeles wenig zu Prousts PoetizitĂ€t erklĂ€rt, beraubt er sich selbst der Möglichkeit, seine Aufgabe, das Auffinden von Verweisen, zu erklĂ€ren und die Schwierigkeiten bei deren Ermittlung darzustellen und so kommt, was kommen muß, ein neues Etikett. Auf diesem steht, dass Prousts Verweise „zunehmend obscur“ seien. Welche er damit genau meint bleibt ungesagt. In der „Recherche“ finden sich explizite und klare Verweise ebenso wie implizite, wobei Proust, graduell unterschiedlich, dem Gesuchten, seien es KĂŒnstler oder Kunstwerke, RealitĂ€t entzieht. So erwĂ€hnt er beispielsweise bei Kunstwerken lediglich ein Detail, einen Bildausschnitt, eine Farbe, eine Farbnuance, ein Sujet oder ein Genre. In anderen FĂ€llen schreibt er einem fiktiven KĂŒnstler reale Kunstwerke oder einem realen KĂŒnstler fiktive Kunstwerke zu. Auch das Mittel der Nachahmung, ein Pastiche, setzt Proust hĂ€ufig ein.
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# 2: Die Kunstwerke

Auch in Bezug auf die abgebildeten Kunstwerke berichtet Karpeles aus kunsthistorischer bzw. kunstwissenschaftlicher Perspektive betrachtet wenig, und so behilft er sich, das Ikonographische, insbesondere bei „GemĂ€lden der Renaissance“, als „schwer fasslich“ zu apostrophieren. Damit ist dieser Punkt weitgehend abgehakt und durch die Anmerkungen, die manch treffliche Bemerkung enthalten, in denen jedoch aber auch, wie im Vorwort, Anekdoten erzĂ€hlt werden, wird die fehlende kunsthistorische Einbettung der Kunstwerke nicht aufgefangen.

Das RĂ€tsel, welchen Nutzen das Publikum aus Abbildungen von Kunstwerken ziehen kann, die es nicht oder unzureichend versteht, konnte Karpeles nicht nur nicht lösen, sondern er untergrĂ€bt damit seinen eigenen Anspruch, dem visuellen GedĂ€chtnis aufzuhelfen. Um auf einem Kunstwerk etwas zu sehen und zu deuten, muss man Wissen haben und um dieses Wissen zu erwerben muss man das Werk sehen können. Insofern wĂ€re eine kunsthistorische Einbettung im Hinblick auf Karpeles‘ Zielpublikum unbedingt notwendig gewesen, dass gerade nicht ĂŒber jenes kunsthistorische Vorwissen verfĂŒgt, dass Karpeles jedoch voraussetzt, da er sich allein auf die Abbildung der Kunstwerke in Form eines etwas angereicherten Inventars verlĂ€ĂŸt. Proust selbst gibt in dieser Hinsicht, am Beispiel der Werke des Schriftstellers Anatole France (1844-1924), einen Wink in seiner Schrift „Tage des Lesens“. So setze ein Buch von France, „stillschweigend eine Menge von gelehrten Kenntnissen voraus und enthalte stĂ€ndige Anspielungen“, die ein allgemeines Publikum nicht bemerke (Tage des Lesens, Suhrkamp Verlag 1978, S. 57). Prousts Charakterisierung der Kunst von France trifft in gesteigertem Maße auf sein Raffinement zu. Proust, der ĂŒber ein großes Kunstwissen verfĂŒgte, das er in der „Recherche“ ausbreitete und in Form verschiedener, poetisch anspruchsvoller Kunstgriffe als fein gesponnenes Netz von Verweisen, prĂ€sentiert, erhöht den Schwierigkeitsgrad im Erkennen der Verweise zudem durch den Einsatz interikonischer, intermedialer, intertextueller und interkultureller Austauschbeziehungen.

# 3: Zwischenergebnis

Wie sinnvoll sein Konzept ist, diskutiert Karpeles ebensowenig wie dessen Grenzen, da aus der „Recherche“ Textpassagen herausgeschnitten wurden und als Fragmente abgedruckt sind. Im Register wird auf die Textstellen in der deutschen Ausgabe (zugrundegelegt wurde die siebenbĂ€ndige Ausgabe der Werke, Suhrkamp, 2004) und der französischen (4 BĂ€nde der PlĂ©iade, Gallimard 1987-1989) verwiesen.

Ein Rezept, Prousts Einsatz der Kunstwerke in der „Recherche“ vorzustellen, fand Karpeles nicht. Auch den Aspekt, was Proust an diesem oder jenem KĂŒnstler interessiert hat, stellt Karpeles nicht durchgĂ€ngig dar, sondern kommt gelegentlich in Anmerkungen darauf zu sprechen. Dem Unternehmen liegt daher eine lockere Versammlung von Aspekten zugrunde, die relativ unverbunden nebeneinander stehen.

# 4: Abbildung der Kunstwerke

Auf eine Textstelle im ersten Teil der „Recherche“, „Unterwegs zu Swann“ anspielend, dort ist von der „visuellen Erinnerung“ die Rede, spricht Karpeles vom „visuellen GedĂ€chtnis“, dem er durch Abbildungen der Kunstwerke aufhelfen möchte. Als materiellen Kurator seiner Proust-Ausstellung bedarf Karpeles des Verlages, der fĂŒr die Ausstattung der Publikation zustĂ€ndig ist, sich jedoch am Prinzip Minimalismus orientierte.

# 4.1. Minimalismus

Der Rezipient trifft bei der Betrachtung der Kunstwerke hĂ€ufig auf TeilstĂŒcke, auf Miniaturisierungen verschiedener Art. Das vom Verlag gewĂ€hlte relativ kleine Buchformat der vorliegenden Publikation entspricht den Maßen 23,5 cm x 15,5 cm dem des Originalbandes, der beim Verlag Thames & Hudson Ltd. (2008) erschien. Die Buchseiten haben zudem einen breiten Seitenrand und es wird, um ein Detail hervorzuheben, im Unterschied zu herkömmlichen KunstbĂ€nden, darauf verzichtet, neben diesem auch eine Gesamtansicht abzubilden.

Zur ersten Art von Miniaturisierung können alle Abbildungen von Kunstwerken gezĂ€hlt werden, auf denen ein Ausschnitt eines Kunstwerks in Verbindung mit großer Verkleinerung prĂ€sentiert wird. So wird Andrea Mantegnas (1431-1506) „MariĂ€ Himmelfahrt“ (ca. 1455) in der GrĂ¶ĂŸe 5,0 x 3,5 cm, Pierre-Auguste Renoirs (1841-1919) „Das FrĂŒhstĂŒck der Ruderer“ (1880/81) in den Maßen 5,0 cm x 4,0 cm gezeigt. In einer weiteren Form der Miniatur wird das Kunstwerk vollstĂ€ndig, jedoch in großer Verkleinerung wie beispielsweise bei Gentile Bellinis (1429-1507) „Prozession auf dem Markusplatz“ (1496) abgebildet, so dass auf diesem das Dargestellte kaum erkennbar ist (5,5 cm x 11 cm).

Eine weitere Form von Minimalismus liegt bei der Abbildung mehrteiliger Bildwerke vor, die recht zahlreich in der „Recherche“ aufgerufen werden, von denen jedoch grundsĂ€tzlich nur ein Bild abgebildet wird. In einigen FĂ€llen, so bei Vittore Carpaccios (1460-1525) mit die „Die Ankunft der Gesandten in der Bretagne“ (1495) betiteltem Tafelbild wird ein Ausschnitt des Ausschnitts gezeigt, da vom TeilstĂŒck lediglich ein Detail, die zwei Gesandten, abgebildet sind.

Im ĂŒbertragen Sinn wird daher der Anspruch einer „Totalansicht“ in relativ vielen FĂ€llen durch die AbbildungsgrĂ¶ĂŸe bzw. den Abbildungssausschnitt unterlaufen. Kritisch zu sehen ist dies insbesondere im Hinblick auf mehrteilige Bildformen, sofern diese im Zeichen einer BilderzĂ€hlung, wie z.B. die Zyklen der Renaissance, stehen.

# 4.2. Begriffliche Eingrenzungen

Die Verweise auf Kunstwerke in der „Recherche“ sind zahlreich und Karpeles‘ Enthusiasmus, diese aufzufinden und abzubilden wird in der Einleitung deutlich. Begrifflich indes weist Karpeles seinen Gegenstand unzureichend aus.

Hinsichtlich der Bezeichnung des Gegenstands werden dem Leser drei verschiedene Bezeichnungen: „Bilder, Malerei und GemĂ€lde“ angeboten. Im Register ist von „Bildern“ und „GemĂ€lden“, in der Einleitung gelegentlich von „GemĂ€lden“ und von „Malerei“ die Rede. Es wird daher in der Rezension von „Kunstwerken“ gesprochen, wenn von den von Karpeles prĂ€sentierten abgebildeten „GemĂ€lden“ außerhalb von Zitaten die Rede ist. Drei Bezeichnungen bedeuten jedoch drei BegriffsumfĂ€nge. Die grĂ¶ĂŸte Reichweite liegt in Bezug auf den Terminus „Bild“ vor und so ergĂ€be sich, wĂŒrde man diesen verwenden, dass erheblich mehr Kunstwerke bei Karpeles abgebildet werden mĂŒĂŸten als abgebildet sind und von Proust auch mit „Bild“, „Bildwerk“, „Kunst“ bezeichnet werden. (Basis der Rezension: Proust Werke in drei BĂ€nden, Übersetzung: Eva Rechel-Mertens, Suhrkamp, 1976)

Um MißverstĂ€ndnisse zu vermeiden, hĂ€tte man auf die Verwendung von „Bild“ im Register verzichten sollen, zumal in der „Recherche“ unter „Bild“ auch innere Bilder wie z.B. Vorstellungen, Traum- oder Trugbilder verstanden werden. Vor allem aber werden in der „Recherche“ auch fiktive Kunstwerke als „Bild“ bezeichnet. Diese in der „Recherche“ zahlreich vorhandenen Kunstwerke existieren jedoch nur in Prousts Phantasie. Abbildbar sind jedoch nur die von Proust erwĂ€hnten realen „Bilder“.

In Bezug auf Zeit und Raum geht Proust bis zur Antike zurĂŒck, so erwĂ€hnt er pompejianische Wandmalerei bzw. allgemein griechische und römische Kunst und behandelt auch Kunstwerke, die außerhalb Europas entstanden und / oder sich dort befinden. So erwĂ€hnt Proust assyrische, japanische oder persische Kunstwerke. Diesen Geltungsbereich von Proust begrenzt Karpeles in der Einleitung auf den Zeitraum vom Mittelalter bis zu Prousts Gegenwart und auf europĂ€ische Kunstwerke. Da Karpeles diese Eingrenzungen vornehmt, fallen all jene Kunstwerke die sich zeitlich und / oder rĂ€umlich außerhalb seines geschaffenen Geltungsbereichs befinden, aus Karpeles‘ Proust-Galerie heraus.

Im Hauptteil, der analog der aus sieben Teilen bestehenden „Recherche“ in sieben Kapitel eingeteilt ist, ermittelte Karpeles 102 KĂŒnstler, die teilweise mit mehreren Werken vertreten sind. Im Durchgang der imaginĂ€ren Ausstellung wird der Betrachter gewahr, dass in dieser nicht nur das klassische Tafelbild, mithin im engeren Sinne „GemĂ€lde“ ausgestellt sind, sondern auch Zeichnungen, Fresken, Radierungen, Stiche, Buchmalerei und ein dreidimensionales Objekt, ein von Hans Memling (1433-1494) bemalter Schrein, der „Ursula-Schrein“ (1489). Von Karpeles unkommentiert wurden Mosaiken, Reliefs, Medaillen, Bildhauerei, textile KĂŒnste (Tapisserien, Stoffe), BĂŒhnenbilder, Glasmalereien und weitere Malereien, soweit sie den dekorativen bzw. angewandten KĂŒnsten oder auf alltĂ€glichen GegenstĂ€nden befinden, nicht aufgenommen, selbst dann nicht, wenn die AusfĂŒhrung bzw. Herstellung auf Vorarbeiten eines KĂŒnstlers zurĂŒckgeht oder von KĂŒnstlern original gefertigt wurden und in der „Recherche“ erwĂ€hnt werden. So kommt Proust beispielsweise an verschiedenen Stellen, erstmalig im ersten Teil, „Unterwegs zu Swann“, auf den zweiteiligen Gobelin mit der Krönungsgeschichte der biblischen Esther zu sprechen. Im dritten Teil der „Recherche“, „Die Welt der Guermantes“, spricht Proust davon, dass die Gobelins von „Boucher“ (François Boucher 1703-1770) seien. Diese Angabe Prousts muss nicht stimmen, da er gelegentlich auch Kunstwerke eines bestimmten Malers einem anderen zuschrieb. In Betracht kann daher auch Jean-François de Troy (1679-1752) kommen.

Auch der Umstand, dass zahlreiche anonym gebliebene KĂŒnstler Kunstwerke geschaffen haben, von denen in der „Recherche“ die Rede ist, hĂ€tte in der Einleitung erwĂ€hnt werden mĂŒssen, da diese in den Katalog nicht aufgenommen wurden.

Aus diesem Zuschnitt ergeben sich erhebliche UnschĂ€rfen und unterschiedlich große Schnittmengen mit Proust. Es entsteht ĂŒberdies der Eindruck, da Karpeles sein Tun weder ankĂŒndigt noch kommentiert, dass der Auswahl eine Portion freies, kĂŒnstlerisches, Gestalten zugrundeliegt. So ist fraglich, weshalb buchmalerische Werke des Mittelalters, nicht jedoch z.B. Illustrationen literarischer Werke wie die, bei der Édition des Fermiers GĂ©nĂ©raux erschienene, illustrierte Ausgabe der Fabeln von Jean de La Fontaine (1621-1695), auf die Proust eindeutig verweist, aufgenommen wurden und so schrumpft die „Totalansicht“ bereits auf der Ebene raum-zeitlichen und medialen Geltungsbereichs dahin, noch ehe Karpeles einen Fuß in die eigentliche Baustelle im Proustschen Kathedralenbau, die Verweise zu finden, gesetzt hat.

III: Karpeles‘ Proust-Dokumentation 1

# 1: Im Proustschen Labyrinth

In seiner Einleitung zĂ€hlt Karpeles auf, dass die Kunstwerke in der „Recherche“ „bedeutsame Rollen – als Analogien, Metaphern und Symbole“ einnĂ€hmen. In dieser Passage spricht Karpeles also von rhetorischen Figuren, Sinnfiguren und Tropen wie Metaphern, Metonymien, Vergleichen, Allegorien oder Symbolen. Weitere ErklĂ€rungen dazu gibt Karpeles nicht ab und so bleibt unerhellt, da auch nicht beispielhaft demonstriert, von welchen poetischen und literarischen Möglichkeiten Proust in seiner Prosa Gebrauch macht. So thematisiert Proust Implikationen eines mimetischen KunstverstĂ€ndnisses, es finden sich Bildkommentare, MalerportrĂ€ts, Malergeschichten und Bildbeschreibungen. Letztere sind sowohl fĂŒr den Leser als auch fĂŒr Karpeles am schwierigsten als Hinweise auf Kunstwerke zu entziffern da sie völlig in den Fluß der ErzĂ€hlung integriert sind. Am anderen Ende des Spektrums sind leicht erkennbare Hinweise angesiedelt, da sie eindeutig markiert sind. Bei einer Reihe von Verweisen ist dies der Fall. Etwas schwieriger wird es in dieser Fallgruppe, wenn Proust die Hinweise auf mehrere Textstellen verteilt. Diese Variante liegt beim bereits erwĂ€hnten Beispiel der Gobelins von Boucher vor. Als Überblendung kann eine weitere Form von Hinweisen gesehen werden, in der mehrere ‚Bilder‘ ineinander ĂŒbergehen oder miteinander an einem Ort verschmelzen. In diesem Fall legt Proust ‚Kunstwerke‘ aufeinander. Dabei können die Grenzen zwischen den fraglichen ‚Kunstwerken‘ auch verwischt werden oder aber man hat es mit Kunstwerken zu tun, hinter dem eines anderes vermutet werden darf, das jedoch maskiert bleibt. Auch eine Versammlungsmöglichkeit von ‚Kunstwerken‘ ist die Reihung, so dass kleine Kunstkabinette entstehen. So richtete Proust z.B. im im siebten Band der „Recherche“, „Die wiedergefundene Zeit“, eine kleine Abteilung fĂŒr orientalisierende Kunstwerke ein: „Ist hierin nicht der ganze Orient eines Decamps, eines Fromentin, eines Ingres, eines Delcroix enthalten?“. Die eben aufgefĂŒhrten Möglichkeiten sind jedoch nur ein Ausschnitt aus Prousts Repertoire, das er so glĂ€nzend beherrscht, dass Karpeles davon auch geblendet wurde. Welche MĂŒhe es ihn kostete, eine Proust-Retrospektive zusammenzustellen, zeigt der Gang in seine Ausstellung anhand einiger Beispiele.

# 2: In Karpeles‘ Proust-Ausstellung

# 2.1: Ausleuchtung

Ein treffliches Beispiel fĂŒr Prousts Einsatz von Vergleichen findet sich im ersten Band der „Recherche“. So schreibt Proust das banale Alltagsobjekt einer Weißdornhecke in eine bereits bestehende Kunstform, eine gotische Kathedrale, ein oder er vergleicht umgekehrt, Giottos (Giotto die Bondone (1267-1337) Darstellung der „Caritas“ aus dem Zyklus „Laster und Tugenden“ (1304-1306) mit dem KĂŒchenmĂ€dchen von Marcels Tante LĂ©onie. In letzterem Fall liegen eindeutige Hinweise auf einen namentlich bekannten KĂŒnstler und ein Kunstwerk vor, so dass Karpeles beide ĂŒber den PrimĂ€rtext leicht identifizieren kann. Eine ganze Reihe solcher, klarer Verweise gibt es. Etwas schwieriger wird die Identifizierung bei einer weiteren Gruppe von Kunstwerken. Es handelt sich dabei um Verweise, in denen Details von Kunstwerken angegeben werden. So lautet Prousts Text: „....mit den Farben Ghirlandaios fand er die Nase des Monsieur de Palancy dargestellt“. Der KĂŒnstler ist leicht zu ermitteln. Es handelt sich um Domenico Ghirlandaio (1449-1494). Um das Kunstwerk zu bestimmen, ist Karpeles auf Nachforschungen bzw. SekundĂ€rtexte angewiesen. In den Memoiren des Schriftstellers Lucien Daudet (1878-1946), die in der Anmerkung genannt werden, wird er fĂŒndig und kann das Werk bestimmen. Relativ viele Kunstwerke konnte Karpeles, dessen detektiver Ehrgeiz, dem Kunstwerk auf die Spur zu kommen in den Anmerkungen deutlich wird, ĂŒber Nachforschungen und Konsultationen von SekundĂ€rliteratur zuordnen.

# 2.2: Beleuchtung

In vielen FĂ€llen jedoch half auch die Hinzuziehung von SekundĂ€rliteratur nicht weiter, um das Kunstwerk zu identifizieren. In dieser Gruppe finden sich vor allem Kunstwerke, in denen Proust nur Details erwĂ€hnt. In diesen FĂ€llen behilft sich Karpeles mit illustrierenden Verweisen. Im Register sind die Titel der zugeordneten Werke in eine Klammer gesetzt. So lautet etwa eine Textpassage aus dem dritten Teil der „Recherche“, „Guermantes“: „.....ob sie die Blumen von Fantin-Latour“ gesehen habe...“. Dieser Passage wird das Tafelbild von Henri Fantin-Latour (1836-1904) „Blumen in einer Schale“ (1882) zugeordnet. Wie im vorliegenden Fall schweigt sich Karpeles hĂ€ufig zu seinen Zuordnungen in dieser Gruppe der Kunstwerke aus.

# 2.3: Leerstellen

Karpeles gelang die Ermittlung zahlreicher Kunstwerke. Über weitere Konsultationen Proustscher Werke, etwa seiner Briefe oder von SekundĂ€rliteratur, etwa Monographien zu einzelnen KĂŒnstlern, wĂ€re es jedoch möglich gewesen, eine grĂ¶ĂŸere Anzahl von Kunstwerken, entweder als eindeutigen oder illlustrierenden Verweis, zu positionieren. So hĂ€ngt in der Galerie der Familie der Guermantes ein Tafelbild von Joseph Mallord William Turner (1775-1851), auf dem ein Regenbogen abgebildet ist. Als illustrierender Verweis bietet sich Turners „Fall of the Rhine at Schaffhausen“ (1806) an, auf dem ein Regenbogen zu sehen ist (Georg-W. Költzsch: William Turner, Die Wahrheit der Legende, DuMont Verlag 2002, S. 46).

Im Angebot ist im dritten Band der „Recherche“ auch ein Aquarell von Gustave Moreau (1826-1898). Dem fiktiven KĂŒnstler Elstir schreibt Proust ein Aquarell zu, das auf Moreaus „PoĂšte mort portĂ© par un centaure (1890) verweist: „Auf einem dieser Aquarelle sah man einen von langer Bergwanderung erschöpften Dichter, den ein ihm begegnender Zentaur, von seiner MĂŒdigkeit gerĂŒhrt...“.

Eine grĂ¶ĂŸere Leerstelle ergibt sich bei der prĂ€raffaelitischen Malerei, obwohl Prousts Interesse an dieser durch die LektĂŒre der Schriften John Ruskins (1818-1900) geweckt wurde. ErwĂ€hnt werden die PrĂ€raffaeliten sowohl als Gruppe als auch Kunstwerke einzelne Mitglieder. So verweist das der „Ancilla Domini“ nachgebildete KostĂŒm, das die Figur Rachel im zweiten Band der „Recherche“ trĂ€gt, auf das Tafelbild „Ecce Ancilla Domini“ von Dante Gabriel Rosetti (1703-1883). PrĂ€sentiert wird von den PrĂ€raffaeliten lediglich John Everett Millais‘ (1829-1896) Tafelbild „John Ruskin“ (1853/54).

Im Fall von Pieter Brueghel d.Ä. (1525-1569) verwendet Proust eine Form des Verweises, bei dem die Hinweise auf zwei Kunstwerke ineinander geschoben sind. EntschlĂŒsselt hat Karpeles dessen Tafelbild „Die VolkzĂ€hlung zu Bethlehem“ (ca.1566). In der bei Karpeles abgedruckten Passage gibt Proust jedoch auch einen Wink auf ein weiteres Tafelbild Brueghels in der Form, dass er ein Detail aus diesem vollstĂ€ndig in die Beschreibung von Details des ersten Tafelbildes integrierte. Im nĂ€chsten Textabsatz, den Karpeles nicht abdruckt, werden jedoch eine Reihe weiterer Angaben zu diesem Tafelbild, „Die Bauernhochzeit“ (1567), in Form einer AufzĂ€hlung von Bildelementen gemacht, so dass dieses Werk relativ gut zu identifizieren ist, ohne dass der Name Brueghel, der in der ersten Textpassage, genannt wird, fĂ€llt. Proust spricht von „flĂ€mische(n) Meister(n)“.

In Form von Bildbeschreibungen prĂ€sent sind in der „Recherche“ einige Tafelbilder von Claude Monet (1840-1926) und zwar bereits im ersten Teil der „Recherche“. Die von Karpeles ermittelten Monets indes befinden sich im dritten, fĂŒnften, sechsten und siebten Teil der „Recherche“. Auch in Bezug auf Jean-Baptiste SimĂ©on Chardin (1699-1779) enthĂ€lt die „Recherche“ mehr Verweisstellen, als Karpeles ermittelt hat. Beim ersten Beispiel handelt es sich um die Form intertextueller Bezug. So verwendet Proust eine Kunstkritik des Schriftstellers Denis Diderot (1713-1784). Dieses Lob Diderots auf die Kunst Chardins fĂŒgt er in seine Textpassage ein, ohne dass dessen Name fĂ€llt. Auf die Spur kann man diesem Verweis kommen, falls der Text von Diderot oder Prousts eigene kleine kunstkritische Schrift „Chardin und Rembrandt“ bekannt ist. Auch um Chardin geht es in Prousts Anspielung auf dessen Kunstwerk „Der Rochen“ (1728) in einer Szene im zweiten Teil der „Recherche“, in der im Grand-Hotel zur Mahlzeit ein Fisch, ein „SeeungetĂŒm“, serviert wird.

Mit einer Vermißtenanzeige, so etwa zu RenĂ© Duguay-Trouin (1673-1736) oder des PrĂ€raffaeliten der zweiten Generation, Edward Coley Burne-Jones (1833-1898), soll der Kurzgang im leeren Kunstkabinett beschlossen werden. Diesem benachbart ist ein Kabinett mit der Aufschrift ‚Fehlstellen‘, in dem es vor allem um die Reihenfolge der Platzierung im Katalog geht.

# 2.4: Fehlstellen

An der falschen Stelle aufgehĂ€ngt wurden etwa Leonardo da Vincis (1452-1519) „Mona Lisa“ (1503-1506), Frans Hals‘ (1580-1666) „Vorsteherinnen des AltmĂ€nnerhauses zu Haarlem“ (1664) und es wurden zwei Textpassagen in „Die wiedergefundene Zeit“ im Abdruck, S. 310 bzw. 312, vertauscht, so dass die ihnen zugeordneten Kunstwerke an der falschen Stelle hĂ€ngen. Im Falle des Tafelbildes der „Der Philosoph“ (1663) handelt es sich um eine Namensfehlstelle. Das Werk wurde zu Prousts Zeiten, Rembrandt Harmenszoon van Rijn (1606-1656), seit einiger Zeit jedoch dem KĂŒnstler Salomon Koninck (1609-1656) zugeschrieben.

# 2.5: Auslassungen

Bei einer Reihe von Kunstwerken ermittelte Karpeles die von Proust genannten KĂŒnstler, unterließ jedoch aus unerfindlichen GrĂŒnden eine Abbildung. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Proust Verweise in Form einer Aneinanderreihung mehrerer Kunstwerke und KĂŒnstlernamen gestaltete. Betroffen von Auslassungen sind etwa Albert-Charles Lebourg (1849-1928), Alexandre Gabriel Decamps (1803-1860) und Jean-Auguste Dominique Ingres (1780-1867), Tiziano Vecelli (1485-1576). Ebenfalls ausgelassen wurde der Abdruck einiger Textpassagen der „Recherche“, soweit die darin erwĂ€hnten Kunstwerke bereits in der Einleitung abgebildet wurden.

IV: Karpeles‘ Proust-Dokumentation 2: Anmerkungen

Man kann in dem Buch von Karpeles, wie die Schriftstellerin Antonia S.Byatt (*1936), vergnĂŒglich blĂ€ttern, zumal es durchaus auch in manchen Textpassagen Unterhaltsames zu bieten hat. So erzĂ€hlt Karpeles in der Anmerkung zu Antoine Watteaus (1648-1721) „Einschiffung nach Kythera“ eine widerlegte Legende als Tatsache. Dieses Kunstwerk soll wĂ€hrend der Französischen Revolution „als Zielscheibe fĂŒr BrotkĂŒgelchen“ gedient haben (Ausstellungskatalog „Geist und Galanterie“, E.A.Seemann Verlag, 2002, S. 207). AmĂŒsant ist diese Stelle, mehr jedoch nicht. Von anderer Aussagekraft ist Karpeles‘ Anmerkung beispielsweise in Bezug auf eine Textpassage im ersten Band der „Recherche“, in der die Beziehung zwischen den Romanfiguren Swann und und Odette de CrĂ©cy behandelt wird. VerknĂŒpft ist diese Stelle mit der von Sandro Botticelli (1444-1510) dargestellten Figur der Sephora auf dem Kunstwerk „Überbringer des geschriebenen Gesetzes“ aus dem Zyklus „Versuchungen des Moses“ (1481/82). In dieser Anmerkung gibt Karpeles wichtige Informationen und ist kunsthistorisch auf dem Stand der Forschung (Hans Körner, Botticelli, DuMont Verlag, 2006, S. 383). Von wiederum anderem Zuschnitt ist die Anmerkung zu EugĂšne Fromentin (1820-1876). In diesem Fall belĂ€ĂŸt es Karpeles bei der Nennung der technischen Daten, gleichwohl der Maler in der „Recherche“ auch mit seiner Schrift „Les MaĂźtres d’autrefois“ (Die Alten Meister, DuMont Verlag, 1998) vertreten ist und Proust seine Kenntnisse altniederlĂ€ndischer Malerei auch dieser Schrift verdankt. Fast durchgĂ€ngig gelungen sind Karpeles Anmerkungen sehr hĂ€ufig in den FĂ€llen wenn, wie im Fall von Diego RodrĂ­guez de Silva y VelĂĄzquez‘ (1599-1660) „Die Übergabe von Breda“ (1634/35), lebensweltliche Aspekte im Spiel sind.

Bei allem Respekt vor Karpeles‘ Findebuch, fast ist man geneigt, „Oh, dieses Buch“ auszurufen. Damit wĂ€re man wieder in der „Recherche“ und zwar im vierten Band, da dort der Ausruf „Oh, diese Kathedralen“ angesichts von Monets Serie von 1894, die der Kathedrale von Rouen gilt, steht. Diese Anspielung Prousts auf die in Frankreich gelĂ€ufige Wendung „O Lac!“, die auf ein Gedicht des französischen Romantikers Alphonse de Lamartine (1790-1869) zurĂŒckverweist, griff der Schriftsteller Octave Mirbeau (1848-1917) in seinem Roman „Nie wieder Höhenluft“ mit „O diese Seen“ auf. Dessen Roman wiederum wird in der „Recherche“ angefĂŒhrt. Nicht von Karpeles, sondern vom Mirbeau-Übersetzer Wieland Grommes, stammt dieser Hinweis auf Lamartine. Im Unterschied zu Karpeles‘, sind Grommes‘ Anmerkungen durchweg homogen und bleiben stets, kenntnisreich und allgemeinverstĂ€ndlich formuliert, sachorientiert. Dass Karpeles auch diese Stillage beherrscht zeigt seine Anmerkung zu einer Passage in der „Recherche“, in der Proust das Tafelbild von Édouard Manet (1832-1883), die skandaltrĂ€chtige „Olympia“ (1863) neben Ingres‘ „Die große Odaliske“ (1814) im Louvre platziert.

V: Karpeles‘ Proust-Dokumentation 3: Bezeichnungen

Der Verlag DuMont, dem das Publikum sehr schöne KunstbĂŒcher verdankt, war im Falle dieses Buches nicht gut beraten, das Lektorat außer Haus zu geben, da sich zu viele Fehler im Handwerklichen und NachlĂ€ssigkeiten auch in den Beschriftungen finden. So darf man erwarten, dass der Name eines KĂŒnstlers in Form seines Originalnamens als Anthonius van Dyck (1599-1641) wiedergegeben wird, von anderen LĂ€sslichkeiten im Hinblick auf KĂŒnstler- und Geburtsnamen oder NamenszusĂ€tzen wie im Fall von ‚Jan Vermeer‘ (1632-1675) einmal abgesehen. Auch ist es wĂŒnschenswert, dass das Lektorat vor der Publikation eine Entscheidung trifft, in welcher Sprache die Titel der Kunstwerke bei Bildunterschriften im „Katalog“ wiedergegeben werden und es sollte Einheitlichkeit herrschen. Auf die Abweichung in der Bezeichnung zwischen „Katalog“ und Register wird allerdings hingewiesen.

Dieses mixtum compositum wird ferner dadurch angereichert, dass einige Titel im Katalog in nicht nachvollziehbarer Weise verĂ€ndert wurden. So heißt es bei Proust im vierten Teil der „Recherche“ zu einem Tafelbild Rembrandts: „...pastosen Charme gewisser von Rembrandt dargestellter Persönlichkeiten ausmacht, des BĂŒrgermeisters Six zumal“. In dieser Passage ist der Titel des Tafelbildes „PortrĂ€t des BĂŒrgermeister Six“ (1654) teilweise enthalten. Untertitelt wird bei Karpeles jedoch mit „PortrĂ€t des Jan Six“. Diesen hatte Rembrandt bereits 1647 portrĂ€tiert und dies Kunstwerk ist mit „Bildnis des Jan Six“ betitelt (GemĂ€ldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin (Hrsg.) Rembrandt – Genie auf der Suche, DuMont Verlag, 2006, S. 41). Unvorteilhaft ist auch die VerĂ€nderung der Betitelung bei Carpaccios „Die Ankunft der englischen Gesandten am Hofe des Königs der Bretagne“ mit „Die Ankunft der englischen Gesandten in der Bretagne“ ausgefallen. Diese NachlĂ€ssigkeiten setzen sich auch im Register unvermindert fort. So werden Seitenzahlen, die sich auf den „Katalog“ beziehen, ebenso vertauscht oder vergessen. Bsp: Carpaccio „Ankunft der Gesandten in der Bretagne“. Ebenfalls bei Carpaccio fehlt der Nachweis der Seitenzahl auf die deutsche Proust-Ausgabe, genannt wird fĂŒr diese Stelle nur die der französischen „(II.713)“ und im Falle von Monet ist es umgekehrt, da die Seitenzahl der deutschen Ausgabe „(VI.479)“ aufgefĂŒhrt wird. Im Falle Watteaus wird zwar die Seitenzahl des Abdrucks des Tafelbildes „Einschiffung nach Kythera“ „(S.20)“ aufgefĂŒhrt, ohne jedoch wie sonst die Seitenangaben zu den Textausgaben anzuschließen. Im Fall von VelĂĄzquez wiederum kommt es zu einer falschen Bezeichnung des Kapitels der „Recherche“. Genannt wird fĂŒr die deutsche Ausgabe „II.813“, anstatt „III.813) und zum Schluss dieser kleinen Auswahl: der einzig genannt PrĂ€raffaelit, Millais, findet nicht ins Register.

VI: Finissage

Ein MusĂ©e imaginaire de Marcel Proust wird es in absehbarer Zeit nicht geben, ja wird eine Utopie bleiben, prognostiziert der ausgewiesene Proust-Forscher Luzius Keller (*1938), der, sich einen catalogue raisonnĂ© wĂŒnschend, um die großen Schwierigkeiten bei der Ermittlung und Zuschreibung der Kunstwerke weiß. In wieweit Karpeles diese Debatten der Proust-Forschung verfolgt hat, ist nicht bekannt. Man kann Karpeles‘ Wagemut, im Alleingang ein „Werkverzeichnis“ zu erstellen, loben. Berauscht von Karpeles‘ Idee stimmte der ĂŒberwiegende Teil der Rezensenten ein Loblied auf die vorliegende Publikation an und ist zudem der Auffassung, dass es sich um einen „catalogue raisonnĂ© handele. Proust-Forscher hĂ€tten Karpeles zu diesem Unternehmen, wenn nicht abgeraten, so doch zur Vorsicht gemahnt. Etwas verwunderlich ist ĂŒberdies, dass sich Karpeles in den Anmerkungen nicht auf bereits vorliegende Publikationen der Proust-Forschung stĂŒtzt, die sich mit Prousts Verweisen auf Kunstwerke befasst, da einige LĂŒcken bei Karpeles bereits geschlossen wurden.

Das Ergebnis liegt nun vor und der Autor muss sich an seinen AnsprĂŒchen messen lassen. Nur punktuell gelang es Karpeles in seinen Anmerkungen zu den Tiefen der kaleidoskopartigen Welt von Proust vorzudringen, da der reine Abdruck von Textpassagen der „Recherche“ in Kombination mit der Abbildung, allenfalls die OberflĂ€che von Text und Kunstwerk berĂŒhrt. FĂŒr viele Stellen bei Karpeles gilt Prousts Wort aus dem siebten Teil der „Recherche“, „Die wiedergefundene Zeit“, dass der wahre Weg zur Wirklichkeit und zur Bedeutung der Dinge in die Tiefe fĂŒhrt. Dessen ungeachtet gibt es jedoch auch TeilstĂŒcke bei Karpeles, wie etwa die Abbildung des FundstĂŒcks „Der letzte Tag eines Verurteilten“ (1870) von Mihaly MunkĂĄcsy (1844-1900) die, inklusive instruktiver Anmerkung, positiv ĂŒberraschten.

VII: Sortie

Der Verlag DuMont wiederum gab das Lektorat außer Haus und setzte die eigene Marketing-Abteilung in Marsch. Diese bewarb Karpeles‘ „Werkverzeichnis“ als „Handbuch“ und als fĂŒr „Proustianer“ und „Erstleser“ von Proust gleichermaßen geeignet und spricht von „exzellenten Reproduktionen von GemĂ€lden, Zeichnungen und Stichen“.

Bleibt auch ein imaginĂ€res Proust-Museum eine Utopie, so wĂ€re bezĂŒglich des Ikonographischen der Kunstwerke mehr möglich gewesen. Wie eine solche ErlĂ€uterung zu einem Tafelbild aussehen könnte, zeigt z.B. die Monographie „Antoine Watteau“ des Kunsthistorikers Helmut Börsch-Supan (*1933) (Tandem Verlag, 2007), der das bei Karpeles abgebildete Tafelbild „Ladenschild des KunsthĂ€ndlers Gersaint“ (1721) auf knapp drei Seiten allgemeinverstĂ€ndlich vorstellt. Ein solches Buch zu Proust sĂ€he jedoch anders als das vorgelegte aus und wĂŒrde erheblich an Umfang und Preis zunehmen. Wer sich selbst einen Eindruck von einem Kunstwerk machen möchte, ist zudem auf eine Reproduktion angewiesen, die das fragliche Werk ganz und in grĂ¶ĂŸerem Format als in der vorliegenden Publikation abbildet, angewiesen. Dies zeigt sich im Vergleich beider Abbildungen des Tafelbildes von Watteau, das im Original die Maße 163 cm x 308 cm hat. In der Version (Karpeles: 7,5 cm x 13 cm) entgeht dem Betrachter bereits visuell Watteaus ironischer Kommentar zur Herrschaft Ludwig XIV.. So ist nur auf der grĂ¶ĂŸeren Version (Börsch-Supan: 21 cm x 39 cm) zu erkennen, dass in der Kunsthandlung von einem Angestellten ein Tafelbild, das von Hyacinthe Rigaud (1659-1743) stammende HerrscherportrĂ€t, weggepackt wird.

Freuen darf man sich indes auf den neuen Roman von Mirbeau, der ebenfalls im Umfeld der „Recherche“ angesiedelt ist und 2011 beim Verlag Weidle unter dem Titel „628-E8“ in der Übersetzung von Grommes erscheint und in dem ein Automobil die Hauptrolle spielt. Eine Ausfahrt steht also an und solche unternahm Proust hĂ€ufig, um KunstschĂ€tze wie Kathedralen selbst zu sehen. Obwohl Proust von den Glasmalereien der Fenster der Kathedralen fasziniert war, ist von diesen bei Karpeles nicht die Rede und so stellt sich fĂŒr ein allgemeines Publikum die von Proust prĂ€sentierte „Vielheit von Welten“ der vielen „originalen KĂŒnstler“ hĂ€ufig als undurchdringlich dar.

28:03:2011




Sigrid Gaisreiter
Eric Karpeles. Marcel Proust und die GemÀlde aus der Verlorenen Zeit. 352 S., 196 fb. Abb., 23 x 15 cm, Gb. Dumont, Köln 2010. EUR 34,95
ISBN 978-3-8321-9276-1
 
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