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Was ist zeitgenössische Kunst oder Wozu Kunstgeschichte? |
So wie Pflanzen ihre tägliche Dosis Licht für ihre Photosynthese brauchen, so benötigen BesucherInnen ihren regelmäßigen Gang ins Museum um sich zu bilden, sich ähnlich innovativ wie die Werke zu fühlen oder einfach um neugierig und weltoffen zu bleiben. Mit etwas Übertreibung könnte man heute die Evolution von Kunst so beschreiben: Wir leben nicht nur im Anthropozän, sondern vor allem auch im Artozän – einer Gesellschaft, die ständig neu durch Fragen und Kritik, durch Aufmerksamkeit und Visionen von Kunstwerken herausgefordert und geprägt wird. Für das gegenwärtige Leben im Artozän gilt: die Gegenwartskunst als Sinnlieferant und als Motor sozialer Innovation, das Zeitgenössische als magisches Mantra und das Publikum als eine kollektive unbekannte Größe im Hintergrund der heutigen Kunstwelt.
Kürzlich hat der Kunstkritiker und -theoretiker Wolfgang Ullrich in einem bewußt zugespitzten Gedanken-Pingpong (https://www.perlentaucher.de/essay/wolfgang-ullrich-ueber-kuratoren-und-kunstmarktkunst.html) die These entwickelt, dass innerhalb des Betriebssystems Kunst demnächst ein Schisma stattfinden werde, nachdem sich „einzelne Teile des Kunstbetriebs abspalten, sich institutionell verselbständigen, sich nicht mehr miteinander verbinden lassen“. Es gebe „auch bereits etliche Statements, die später vielleicht einmal als Prophezeiungen eines Kunst-Schismas gewürdigt werden. So sieht Massimiliano Gioni, der 2013 selbst künstlerischer Leiter der Biennale in Venedig war, in der Hirst-Ausstellung sowie in der zeitgleich eröffneten Athener Ausgabe der Documenta "ein Musterbeispiel für das Auseinanderdriften der divergierenden Auffassungen von Kunst". Diese charakterisiert er folgendermaßen: "Auf der einen Seite Celebrity Culture, Markt, visuelle Unterhaltung, auf der anderen eine Idee von Kunst als Politik und Engagement, die nicht ganz frei ist von einem Übermaß an Moralismus und Widersprüchen."1 In Zukunft, so spekuliert Ullrich weiter, „würde man sich mit der Geschichte der Auftragskunst befassen, Zeremonialwissenschaft, Luxustheorien und Ökonomien der Verschwendung lehren und erforschen, wie sich die Distinktionskraft von Statussymbolen steigern lässt.“
Wie so häufig bewegen sich diese Gedankengänge Wolfgang Ullrichs durch die spekulative Kraft, die sie in der Imagination ihrer Leser in diesen freisetzen. In vergleichbarer Weise wie Ullrich, der sich seit Jahren mit komplexen Fragen des Funktionswandels und der -erweiterung von Kunst und Kunstideen beschäftigt, stellt sich auch die Kunstgeschichts-professorin Anne Marie Bonnet in ihrem neuen Buch“ Was ist zeitgenössische Kunst oder Wozu Kunstgeschichte?“ Fragen nach dem Sinn von zeitgenössischer Kunst, ihren veränderten Orten, Funktionen und Wertmaßstäben innerhalb einer tendenziell luxusorientierten Gesellschaft, in der die magische Formel „Teuer=erfolgreich=bedeutend“ gelte (S. 16) und sich heute die Mentalität von „Siegerkunst“ (Wolfgang Ullrich) durchgesetzt habe. Immer wieder so Bonnet in ihrem instruktiven Essay, gehe es um Fragen der Macht wie etwa: „Wer ist heute für Bedeutungszuweisung verantwortlich“? Welche Akteure schreiben Kunstgeschichte? Und warum funktionieren heute Museen und ihre Ausstellungen als „Zentralbanken der ästhetische Werte“ (S. 35) Anders als Wolfgang Ullrich, der sich immer wieder neu als Liebhaber von paradoxen Konstellationen profiliert und dabei besonders die Unmöglichkeit der Bestimmung des Phänomens Kunst betont, gelingt es Anne Marie Bonnet in einer eher unterkühlten aber nichtsdestoweniger ambitionierten Weise, die Probleme heutiger Felder zeitgenössischer Kunstpraktiken auf eine leicht verständliche aber nicht anspruchslose Weise darzustellen. Bonnet beschreibt das Funktionieren der Funktionen von Kunst, Ullrich interessiert sich für die Frage, wie sich diese ihrerseits verändern und dabei die Idee von Kunst in noch Unbekanntes transformieren.
In beiden Fällen entstehen mehr Fragen an die eigene Gegenwart als Antworten, die so tun als würden sie endgültige Wahrheiten verbreiten. Was kann heute eigentlich nicht zu Kunst oder in Kunstkontexten betrachtet werden? Wie entstand die Autorität der heute waltenden Kunstvorstellungen? Wie entstehen spezifische Bedeutungen, indem Bilder in sehr spezifischen Weisen reproduziert und oder verändert werden? Warum sind seit einigen Jahren Fragen, die den Kunstbetrieb befragen relevanter als Antworten oder Thesen, die häufig genug eher von der Klugheit ihrer AutorInnen erzählen? Wodurch ist eigentlich die heute inzwischen als einseitig und übertriebene Fixierung auf die „Contemporaryness“ entstanden? Gibt es nicht andere viel drängendere Probleme für KünstlerInnen als die Suche nach dem magischen Stein des Zeitgenössischen? Wie kam es zu der Standthese: Je abstrakter, desto moderner? Mit derart drängend ungemütlichen Fragen belästigt Bonnet bewusst ihre LeserInnen, die sie so zum aktiven Mitdenken zwingt. Kunst erweist sich als Anlass die Komplexität von Werken in angemessener Weise zu würdigen. In gleich mehreren Kapiteln beleuchtet Bonnet die Frage, wie sich der Funktionswandel von Kunst nicht zuletzt durch die veränderte Rezeption entwickelte, die ihrerseits durch veränderte Museumskonzeptionen zustande kamen und so zu einer eigenen Kanonbildung führten und unseren Blick auf das Phänomen Kunst bis heute hin einseitig prägen.
Ob und wodurch sich die diversen Praktiken zeitgenössischer Kunst in andere noch unbekannte Dimensionen und Aktivitäten transformieren lässt, ist nicht zuletzt abhängig von den Handlungsweisen derjenigen, die mit der Kraft ihrer intellektuellen und sinnlichen Zugangsweisen ihre Welt verändern. Wie aber verändern beispielsweise historische Ideen und Konzepte wie Kreativität und Konsum unsere Bilder von Kunst, die ja ihrerseits den Ausdruck von erweiterten Zugangsweisen zu unbekannten Erfahrungsräumen verkörpern? Skepsis und Zweifel werden dabei zukünftig möglicherweise die Fixierung auf das Zeitgenössische und Moderne ablösen. Die „Schule des Befremdens“, die Peter Sloterdijk einst mit dem Museumsboom des späten XX. Jahrhunderts assoziierte ist in eine neue Phase getreten. Den „Dilemmata der Avantgarde“ (S. 59) wird die Kunstgeschichte wie auch der/die einzelne BetrachterIn auf lange Sicht nicht mehr ausweichen können.
Schließlich lässt sich die zentrale Frage, die der heutigen Kunstwelt innewohnt, vielleicht so formulieren: Ist Kunst heute zu einem (Ausstellungs-)Wert geworden, der sich gleichzeitig als ungedeckter Kredit der Gesellschaft und als Maßstab einer besonderen Unterscheidung betrachtet werden kann, die innerhalb eines Systems eine Außenposition einzunehmen in der Lage ist? Der Marktwert der Kunst oder anders gesagt deren gegenwärtige Relevanz besteht nicht (mehr) im gesteigerten Erfolg von Künstlern, Galeristen und Kuratoren, sondern in der Fähigkeit der Werke diesen Mechanismus gleichzeitig zu steigern und zu unterwandern. Die Forderung nach Freiheit und Autonomie einerseits und das Eingeständnis andererseits, nicht ohne selbst verursachte blinde Flecke, institutionelle Zwänge und kunstvolle Formen von Selbstinstrumentalisierung auskommen zu können, steht für den nach wie vor unaufgelösten Widerspruch heutiger Gesellschaften und ihrer diversen Kunstproduzenten.
05.09.2017 |
Michael Kröger |
Was ist zeitgenössische Kunst oder Wozu Kunstgeschichte? Bonnet, Anne-Marie. 104 S. 31 Abb. 21 x 14 cm. Engl.-Br. Deutscher Kunstverlag, Berlin 2017. EUR 14,90. |
ISBN 978-3-422-07380-7
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