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Selfies – Digitale Bildkulturen

Gesichter entwerfen Bilder

Wenn heute nach Wolfgang Ullrich angenehm smarter Kurzdefinition ein Selfie machen heißt, ein Bild zu machen auf dem man sich selbst zum Bild macht – was bedeutet das eigentlich für deren Produzenten? Das SELFIE ist keine neue Bildgattung, sondern eher ein Modus des Aktivwerdens. Im Selfie wird man selbst zum Bild – aber gleichzeitig verschweigt diese Form der Bildwerdung auch viele Aspekte ihrer sozialen, ästhetischen und kunsthistorischen Vorgeschichte. Grund genug für Ullrich, diese wieder zu erinnern.
In jener knappen ästhetischen Sekunde, in der so etwas ein komplexes und zugleich unendlich einfach produzierbares wie ein SELFIE entsteht, besteht zumindest die fiktive Möglichkeit, dass trotz aller Beliebig- und Ideenlosigkeit ihrer Anwender plötzlich eine ganz neue, subtile oder spitzfindige Konstellation entstehen kann, die im Bild und als Selfie festgehalten, über dieses Medium selbst hinausweist. Wie Emojis sind Selfies hochgradig selbstähnliche Formen einer globalen Bildlichkeit in dessen Zentrum etwas zutiefst Menschenähnliches steht: der inszenierte Gesichtsausdruck.
Selfies verkörpern, so der Bildwissenschaftler und Medienphilosoph Wolfgang Ullrich in seiner präzise argumentierenden kleinen Studie, so etwas wie eine historisch neuartige „mündliche Bildkultur“, die inzwischen bereits durch diverse Apps das entstandene SELFIE in seiner ästhetischen Attraktivität zusätzlich steigert – beispielsweise indem ein reales Gesicht in eine Emoijs ähnliche Ästhetik verwandelt wird. Weitere Aspekte, die Ullrich in seiner komprimierten Mediengeschichte einer neuen Bildwerdung in Form des Selfies deutlich werden lässt, sind u.a. der (theaterhistorische) Bezug zum Maskenspiel, dessen Geschichte der Autor bis in die Malerei des 18. Jahrhunderts zurückverfolgt sowie ebenso der kultursoziologische Aspekt des Verfalls und Ende des öffentlichen Lebens (Richard Sennett) , in dessen heutigem Stadium die Sozialen Medien wohl erstmals überhaupt für Menschen ein neues kollektives Trainingsfeld darstellen, um Fremdheit in ungeahntem Ausmaß kennenzulernen und ästhetisch auszuhalten. Für eher kunsthistorisch interessierte Augen liest sich vor allem Ullrichs Exkurs zu Aby Warburgs Konzept der Pathosformel und den in der Antike ausgebildeten Mimiken und superlativischen Gesten auf verblüffende Weise erkenntnisstiftend. In Zeiten des heutigen digitalen Selbstausdrucks sei es „leichter denn je möglich, die von einer bildlich fixierten starken Emotion wiederum in Form von Bildern zum Ausdruck zu bringen.“ Warburg , so Ullrich, hätte mit Sicherheit, dem Selfie als Medium ganz eigene Dimensionen des Erkennens abgewonnen. Auch wenn Ullrich viele seiner Aspekte nur eher skizziert und kurz anreißt, wird nach der Lektüre des minimalistischen Bändchens doch deutlich, dass sich in dieser Form des gesichtsorientierten Bildermachens doch so etwas wie einen Epochenbruch auf dem Feld des Visuellen abzeichnet. Im Akt der Produktion eines Selfies verkörpert sich der weltweite Wunsch von Menschen so intensiv und umfassend wie möglich mit anderen zu kommunizieren. Aus dem Bild, in dem man sich selbst für andere zum Bild mache, werde tendenziell ein Artefakt, ein Zombie, der mit digitalem Gesichtsdesign ausgestattet neuen Funktionen in einer „augmented reality“ spielen wird. Am Ende seiner Untersuchung, in der der Autor in die Rolle eines Zukunftsforschers hinüberwechselt, wird deutlich, dass wie nie zuvor in der Kulturgeschichte der menschlichen Gesichtsästhetik sich auch die Idee einer werkorientierten Form von Kunst verwandeln wird. Indem das Selfie pragmatisch, subtil und technisch hochgerüstet eine neue Kultur der mündlichen Bildwerdung etabliert, werde es, so Ullrich, zukünftig um soziale, „mündlich“ geprägte Rollenspiele gehen, in denen die Akteure schlagfertig, selbstbewusst und spitzfindig auf unterschiedlichsten Ebenen heute möglich gewordener Kommunikation miteinander agieren. Das Motto kann heute also nur lauten: Ich mache ein Selfie, also bin ich …

06.05.2019
Michael Kröger
Selfies. Ullrich, Wolfgang. Digitale Bildkulturen. 80 S. 15 x 9 cm. Engl. Br. Wagenbach Verlag, Berlin 2019. EUR 10,00.
ISBN 978-3-8031-3683-1
 
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