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Burgundische Tapisserien |
Welche Bedeutung Tapisserien in der Zeit des Mittelalters sowie der frühen Neuzeit als Teil repräsentativer und standesgemäßer Ausstattung eines Fürsten oder reichen Höflings besaßen, das lässt sich aufgrund der Zeitläufte oftmals nur mehr schwer rekonstruieren. In Burgund, das sich zwischen 1361 und 1477 unter der ereignisreichen Herrschaft seiner vier großen Herzöge zu einer der zentralen und blühendsten Kunstlandschaften Europas entfaltete, bezeugen noch heute etliche Tapisserien - etwa in der Kirche Notre-Dame in Beaune - die hohe Wertschätzung, welche die Teppichherstellung zu jener Zeit erfuhr. Bedeutende burgundische Tapisserien gelangten allerdings auch als Kriegbeute nach der Schlacht von Murten am 22. Juni des Jahres 1476 in den Besitz der Schweizer - und über Umwege in späterer Zeit in das Historische Museum in Bern.
Von dieser kunsthistorisch interessanten wie kulturgeschichtlich bemerkenswerten Sammlung in Bern ausgehend, haben die beiden Kunsthistorikerinnen Anna Rapp Buri und Monica Stucky-Schürer "eine Tapisseriegeschichte" (S. 9) vorgelegt, die der von ihnen 1990 publizierten Arbeit über den Gesamtkomplex der oberrheinischen Tapisserien des 15. Jahrhunderts analog ist und dem Leser - gleichsam wie durch ein Fenster - die faszinierende Welt mittelalterlicher Teppiche eindrucksvoll erschließt. "Wir setzten uns zum Ziel", heißt es im Vorwort des beeindruckenden Werkes, die seit dem frühen 19. Jahrhundert beinahe ins Unermeßliche angewachsenen archivalischen Fakten über die Tapisserieproduktion im Herzogtum Burgund zu sichten und in gesonderten Kapiteln systematisch auszuwerten„.
Wer sich anhand der opulent bebilderten 'Burgundische[n] Tapisserien' einen Eindruck von der inhaltlichen Vielfalt der Themen und Motive burgundischer Tapisserien verschafft und sich dann in den ausgezeichneten Beschreibungen und Interpretationen einzelner Tapisserien festliest, der wird fortan mittelalterliche Teppiche mit grundsätzlich anderen Augen sehen. Mithin liegt hier also ein Kunstbuch vor, dass Wissenschaft und Leben in der schönsten Weise zu verbinden in der Lage ist.
Hinzu kommt, dass die beiden Autorinnen aufgrund der außerordentlichen Forschungsleistung (das Buch hat insgesamt 1382 Anmerkungen und das fünfzehnseitige Literaturverzeichnis weist etwa 750 Titel auf) über ein umfassendes historisches Wissen verfügen, dass den weiten Hintergrund bildet, vor welchem die mittelalterlichen Teppiche für den Leser wirklich zu sprechen beginnen. Dadurch wird es möglich, die Tapisserien nicht nur als Exponate von weltbedeutenden musealen Sammlungen - es werden auch mit der Berner Sammlung in Zusammenhang stehende Teppiche behandelt - wahrzunehmen, sondern als integralen Bestandteil vergangener europäischer Lebenswirklichkeit zu sehen. Eine Wirklichkeit, in der auch die Biografien der Auftraggeber dieser textilen Wunderwerke, die in vielen Detailaufnahmen und doppelseitigen Farbabbildungen vorgestellt werden, angemessene Berücksichtigung finden.
Das Werk umfasst drei große Kapitel, die einander im Aufbau ähnlich sind. Minutiöse Beschreibungen der Teppiche stehen am Anfang. Es folgen umfassende Erläuterungen zu Komposition, Kolorit, Figuren, Architektur, Landschaft, Ikonographie, Auftrag und Bestimmungsort sowie Datierung und Lokalisierung des jeweiligen Objektes. Eingestreut finden sich historische Exkurse, wie beispielsweise "Der Orden vom Goldenen Vlies" (S. 145-149), "Die Förderung der Tapisserieproduktion durch den Burgunderhof„ (S. 327-340) oder "Der Handel mit Tapisserien„ (S. 343-354). In manchen Fällen wird "Das Verhältnis von Wort und Bild" in den Tapisserien erörtert. Und dem lesefreundlich in zwei Spalten gesetzten Text nebenan gestellt sind diejenigen Nummern der ausgezeichneten Abbildungen, die sich nicht auf derselben oder der gegenüberliegenden Seite befinden.
Kapitel I behandelt ausführlich und auf dem Hintergrund der Forschungsgeschichte "Die Berner Tapisseriesammlung" (S. 11-219) und ihre Geschichte. "Verwandte Tapisserien des 15. Jahrhunderts" (Kapitel II, S. 221-325) stellt - ergänzend zu Kapitel I - vergleichend bedeutende Tapisserien vor, die sich heute in Brüssel, Glasgow, Krakau, London, Reims, Rom, Rouen und Wien befinden und dokumentiert dadurch gleichzeitig nicht zuletzt die Beliebtheit bestimmter Motive und Themen im damaligen Europa. Kapitel III, "Die burgundischen Tapisserien der Fürstenhöfe und des Klerus" (S. 327-445), 2stellt alle erhaltenen und durch Quellen nachweisbaren Tapisserien ..., deren Herstellung durch die vier Burgunderherzöge einerseits für ihren Eigenbedarf, andererseits für Geschenkzwecke veranlasst worden ist, ..." (S. 327) zusammen. Für Reiseleiter dürfte dieses Kapitel von zusätzlichem Interesse sein. Sehr nützlich sind auch die Übersetzungen der "tituli der Tapisserien" in einem Appendix (S. 447-456) sowie der auszugsweise Abdruck bestimmter auf die Tapisserien bezogener Passagen aus der Korrespondenz der Medicibank in Brügge (S. 461-462), einem der wichtigsten Orte der Produktion von Tapisserien in Europa.
Nicht nur kunsthistorisch Spezialisierte werden diese opulent ausgestattete Monographie, die aufgrund der präzisen und perspektivenreichen Darstellung keinerlei Wünsche offen lässt, mit Freude zur Hand nehmen. Die vielen exzellenten Abbildungen vermitteln dem Leser sowohl den Herstellungsprozess vom künstlerischen Entwurf bis zur Fertigstellung der Tapisserien als eben (indirekt) auch viel von der Mentalität und Geistesgeschichte im burgundischen Europa. Ein Kunstbuch von außergwöhnlichem Format.
26.8.2002 |
Matthias Mochner |
Anna Rapp Buri / Monica Stucky-Schürer: Burgundische Tapisserien. 488 S., 340 meist fb. Abb. Ln. EUR 86,- |
ISBN 3-7774-9260-4
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