|
|
[zurück] |
Erhart Kästner — Julius Bissier |
"Aufstand der Dinge" war einer der schönsten Buchtitel der alten Bundesrepublik, sein Autor, der Direktor der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, ist jedoch kaum noch bekannt. Er heißt Erhart Kästner und stand dieser Institution von 1950 bis 1968 vor. Kästner, 1904 geboren, starb 1974 im Faust-Städtchen Staufen im Breisgau. Kästner, der zunächst Germanistik studierte, absolvierte dann eine Ausbildung zum Bibliothekar in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden. Er war eine kurze Zeit Gerhart Hauptmanns Sekretär, um dann, in neuer Funktion, in Wolfenbüttel eine hervorragende und inzwischen berühmte Sammlung von Maler- und Künstlerbüchern aufzubauen. Kästner war auch publizistisch, bei einer Zeitung, tätig, 1935 folgte seine erste Buchveröffentlichung, bei der Kunst und Literatur aufs Schönste zusammenstimmen: "Bekränzter Jahreslauf". Es handelt sich um einen Kalender, der mit einem gemalten und geschriebenen flämischen Stundenbuch aus dem ausgehenden Mittelalter geschmückt wurde und zu dem Kästner eine Einleitung schrieb. Also, schon früh begibt sich Kästner auf eine geistige Reise, bei der Kunst und Literatur sich wechselseitig befruchten.1936 folgt ein Buch zu Scherenschnitten. Kunst und Literatur war er jedoch auch persönlich nah, er pflegte Freundschaften mit Max Ernst, Hans Arp, Werner Gilles, Werner Heldt, Gerhard Altenbourg und Julius Bissier. Er schätze Künstler wie Paul Klee, Juan Miró, Pablo Picasso, Wols und Mark Tobey, damals kaum in Deutschland bekannte Avantgardekünstler. Kästner leistete bei deren Durchsetzung Pionierarbeit, kaum bekannt in einer breiteren Öffentlichkeit, auf dem deutschsprachigen Buchmarkt war er mit Schriften zu Kunst und Literatur, aber auch zu Reiseeindrücken aus Griechenland, präsent. Kästners 100. Geburtstag 2004 war Anlaß, ihn und seine Schriften neu ins Gedächtnis zu rufen.
Aus Wolfenbüttel kommt die erste Gratulantin. Sie heißt Helwig Schmitz-Glintzer und steht heute Kästners ehemaliger Wirkungsstätte vor. Eine schöne Geste, Kästner mit "Erhart Kästner - Man reist, um die Welt bewohnbar zu finden" zu ehren. Die Herausgeberin entschied sich, Kästners Schriften als Werkdiagonale zu präsentieren, eine kluge Wahl. So findet man leicht Zugang und wer, angesteckt, weiter will, schlägt in den Nachweisen nach. Auch gut, einen großen Autor, Arnold Stadler, um einen Essay zu Kästner zu bitten. Poetisch, einfühlsam und kenntnisreich, läßt er, neben Eigenem, auch Kästners Bekannte sprechen.
Ein Gratulant, der Verleger Ulrich Keicher, kommt mit einer Kostbarkeit aus Kästners reichem Textfundus, einem bisher nur ein Mal abgedruckten Essay im Kunstkatalog "Ars multiplicata" von 1968. Dieser kurze Text enthält Kästners Gedanken zum Buch und zu einem ganz besonderen Typ, dem Maler- und Künstlerbuch, seinem zentralen Thema seit den 1960er Jahren. Im Text entfaltet Kästner auch Gedanken zum Prinzip des Multiplen in Kunst und Gesellschaft, der Mensch als "Teil einer Masse und bloß multipel. Bloß Stanzstück." Wir kennen Werner Spiess, der stets bemüht ist, den Surrealismus bekannt zu machen, Kästner tat das früh und ebenso entschieden wie Spiess. Er hielt diese Richtung für die zentrale Kunst "unseres gesamten Jahrhunderts." Kongenial stattete Keicher seine Hommage an Kästner aus und gab ihm den Titel "X mal Buch", Malbuch aber auch mit "X mal" ein Hinweis auf den Essay zum Multiplen und schließlich wird das "mal" begrenzt auf eine Auflage von 300 Stück.
Alle, die ihm gratulierten, haben sich etwas Besonderes einfallen lassen. So auch der ambitionierte Verlag modo aus Freiburg, der es in die Hand nahm, die Beiträge von Symposion und Ausstellung in Freiburg als zweiteilige Publikation zu realisieren. Das die Ehrung Kästners in Freiburg stattfand, hat einen doppelten Grund. Im Breisgau verbrachte Kästner seinen Ruhestand, geistig war er sowieso schon lange dort. Kästners Nähe zur Freiburger Philosophie, wie sie Martin Heidegger vertrat, ist offenkundig. Ganz dessen Duktus verpflichtet, eröffnet er den Band "Aufstand der Dinge": Wohl, aber diese Zukunft ist Abkunft. Welt ist, was sich fortwirft, Abtrift; Welt und Schwund sind dasselbe." Kästner kennt Heideggers fundamentale Technikkritik genau und wie er entwirft eine harsche Absage an die technische Moderne. Das ist aber nur der halbe Kästner, der Exkurs ist nötig, denn "Das Ding" beschäftigte Kästner auch in seinen Reden über Kunst und das wurde auf dem Symposion verhandelt, das im Sommer 2004 zu Ehren Kästners vom Philosophischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br. als Heimspiel veranstaltet wurde. Der erste Teil des Zweiteilers "Die Wahrheit von Orten und Dingen", versammelt die Textbeiträge des Symposions, herausgegeben vom Vorsitzenden der Martin-Heidegger-Gesellschaft und Inhabers des traditionsrei-chen philosophischen Lehrstuhls in der Nachfolge von Edmund Husserl und Heidegger, Günter Figal. Darum ist es auch nicht verwunderlich, dass nicht unbedingt eine kritische Wür-digung von Kästners Denken angestrebt wurde, einen guten Überblick indes verschaffen die Beiträge von Bernhard Zimmermann, Hans-Helmut Gander und Günter Figal schon. Besonders erfreulich, mit Gottfried Boehm, der zur "Macht der Bilder im Werk Erhart Kästners" spricht, konnte eine kunsthistorische Kapazität mit klarer Sprache gewonnen werden. Kästners Zugang zu Bild und Künstlern, so Boehm, komme weniger über "Analysen von Einzelwerken", zustande, vielmehr interessiere ihn das, "was man die Kraft und den Erfahrungs-gehalt der Kunst nennen kann" und er nähere sich ihr, weniger als Kunstkritiker, vielmehr als Dichter. Tatsächlich, das macht Kästners Ausführungen zur Kunst so lesenswert, sie sind voller Poesie und dabei doch klar und bar jeder Fachsprache.
Ganz deutlich wird der Kästners subjektiver Zugang etwa an seinen Ausführungen zu Kunst und Leben von Julius Bissier (1893-1965), einem Künstler des Informell, der für Kästner den "Inbegriff von Künstlerschaft" darstellte. Im zweiten Teil des Zweiteilers, der mit "Julius Bissier" betitelt ist, wurde Kästners Typoskript von 1970 ebenso abgedruckt wie der Text der Rede, die Matthias Bärmann zur Eröffnung der Ausstellung "Der gewendete Blick - Julius Bissier -Tuschzeichnungen" hielt. Auch sie ein Glücksfall, wirft sie doch einen Blick auf Bissiers Leben voller Brüche, auf seinen späten Erfolg, der sich erst nach 1958, mit einer Ausstellung, die Werner Schmalenbach in der Kestner-Gesellschaft in Hannover realisierte, einstellte, da war Bissier bereits 65 Jahre alt. Bärmann singt ein Lied auf beide, Kästner lernte Bissiers Kunst durch die Kestner-Ausstellung kennen, wie umgekehrt, Bissier Kästners Werke als Dichtung rezipierte. Da trafen sich Geistesverwandte, beide, so Bärmann, verband die "prägende Erfahrung von Stille und Leere, Kontemplation, die Achtsamkeit auf die Dinge, das beharrliche Gehen eines Weges." Dieser Weg führte Bissier weg von Leinwand und Öl hin zur Gewichtslosigkeit des Papiers und einer gestischen Malerei mit meditativem Tempe-rament, zu den schwarzen Tuschen, abstrahierte, fernöstlich inspirierte, Zeichen. Werden in der Ausstellung zum ersten Mal frühe und späte Tuschen miteinander gezeigt, so werden im Katalog sechs Tuschen eines einzigen Tages, vom 31.1.1965, abgebildet. Der Text Kästners, betitelt mit "Lauter Versuche desselben Zeichens", spielt dabei auf ein Erlebnis Kästners im Hause Bissier an, als er in Bissiers Atelier kam und dort ein Konvolut von Tuschen, die rasch hintereinander in einer Sequenz entstanden waren, ausgebreitet sah, viele davon aber anschließend verworfen wurden. Bis in die äußere Gestaltung hinein, für die der modo Verlag zuständig war, waltet Sorgfalt. Der Umschlag wurde in beiden Katalogen in zwei Farbfelder, schwarz/weiß aufgeteilt, deren jeweilige Flächen zwischen Katalog 1 und 2 versetzt wurde. Die jeweiligen Namen stehen im weißen Feld mit schwarzer Schrift und es handelt sich ja um Künstler, die selbst in schwarz auf weiß arbeiteten. Also, nicht grosso modo gelungen, sondern ganz und groß von modo.
Schon 2003 lag eine Arbeit über Kästner vor, die dessen Schriftkunst nicht nur zum Thema hat, sondern selbst solche bietet. Umfassend, klar gegliedert, gut verständlich, Julia M. Nauhaus stellt in ihrer Dissertation Kästners Leben und Wirken, soweit es sich auf die Bildende Kunst bezieht, vor. Als Titel wählte sie ein Wort Kästners aus dessen Aufsatz "Moderne Kunst", abgedruckt in "Aufstand der Dinge". Darin denkt sich Kästner ein "Fantasie-Kabinett mit Bildern" aus und Nauhaus machte daraus "Erhart Kästners Phantasiekabinett", kein Kabinettstückchen, sondern 661 Seiten stark, ein Kompendium zu Kästner der Sonderklasse. Was fehlt, noch eine solche Arbeit zu Kästners Arbeiten zur literarischen Moderne wie Paul Celan oder Uwe Johnson, am besten auch wieder aus Freiburg, aus dem Rombach Verlag.
Bildkunst und Schriftkunst kommen in 6-mal Buch als Variationen auf ein Thema, Kästners Engagement für Kunst, Künstler und schöne Bücher, aufs Schönste zusammen.
30.4.2006
Kästner, Erhart: X mal Buch. 2004. 24 S., 2 fb. Abb. 23 x 15 cm. 'Keicher, U. Ebr EUR 10,00 (ISBN3-932843-65-7)
Kästner, Erhart: "Man reist, um die Welt bewohnbar zu finden". Lebensbilder und Bewunderungen. Hrsg. v. Schmidt-Glintzer, Helwig. 2004. 240 S. Insel Verlag. Ln EUR 14,90 (ISBN 3-458-17194-0)
Kästner, Erhart: Aufstand der Dinge. Byzantinische Aufzeichnungen. 9. Aufl. 2000. 355 S.. (Bibl.Suhrkamp 476) Suhrkamp. Kt EUR 18,80 (ISBN 3-518-01476-5)
Nauhaus, Julia M: Erhart Kästners Phantasiekabinett. Variationen über Kunst und Künstler. 2003. 662 S., 24 sw.u. 8 fb. Abb. 23 x 15 cm. (Rombach Cultura 32) Rombach Druck- und Verlagshaus. Pb EUR 42,00 (ISBN 3-7930-9340-9)
|
Sigrid Gaisreiter |
Erhart Kästner — Julius Bissier.
Julius Bissier — Der gewendete Blick. 2004. Hrsg. Jochen Ludwig, Museum für Neue Kunst, Städtische Museen Freiburg. Texte v. Jochen Ludwig, Erhart Kästner, Matthias Bärmann, 40 S. 8 s/w Abb. 17 cm, Br., Fadenheftung
Erhart Kästner — Die Wahrheit von Orten und Dingen 2004. Hrsg. Günter Figal. Texte v. Günter Figal, Bernhard Zimmermann, Hans-Helmuth Gander, Gottfried Boehm. 80 S. 21 cm, Br., Fadenheftung. EUR 16,00 für beide Bände Modo, Freiburg 2004.
|
ISBN 3-937014-12-8
[modo]
|
|
|
|
|
|