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Fabrikbau und Moderne

Der Fabrikbau. ebenso wie die Ideen der Moderne, gehört zu den wichtigsten Experimentierfeldern in der Architekturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts. Wie sich beide gegenseitig beeinflussten, ist das Thema einer Studie der Architektin Ingrid Ostermann.
In ihrer Untersuchung zeigt Ingrid Ostermann, die sich vergleichend mit Fabrikbauten im Deutschland und den Niederlanden der 1920er und 30er Jahre beschäftigt, in welchem Ausmaß die Ideen der Moderne bei der Planung und Gestaltung von Fabrikbauten umgesetzt wurden, insbesondere auch hinsichtlich der Funktionalität der Produktionsabläufe.
Vor dem Hintergrund internationaler Einflüsse und der wirtschaftlichen Situation werden die bemerkenswert vielfältigen baulichen Ausformulierungen analysiert und als zentrale Schauplätze der Architekturmoderne in Europa in Deutschland und den Niederlanden beispielhaft dargestellt.

Nachdem Ostermann zunächst ausführlich auf das Umfeld, den gesellschaftlichen Rahmen und den Fabrikhau im allgemeinen Ländervergleich Deutschland/Niederlande eingeht, erläutert Ostermann drei Projekte aus Deutschland, beginnend mit dem Nürnberger „Milchhof" aus dem Jahr 1920/30 von Otto Ernst Schweizer. Als der Größte Molkereibetrieb Europas, produzierte das Unternehmen rund 170 000 Liter Frischmilch pro Tag. Kurz vor der Weltwirtschaftskrise plante Schweizer zwar nach amerikanischen Vorbildern, musste aber gleichzeitig städtebauliche Erwägungen einbeziehen, mit dem Ziel den Stadtteil aufzuwerten Bemerkenswert ist die Ähnlichkeit der Ausgabehalle mit der Eingangshalle des Nürnberger Stadions, das Schweizer zuvor realisiert hatte.
Unter Überschrift „Mit Röntgentechnik in die Zukunft“ lässt Ostermann die Hamburger Röntgenröhrenfabrik von 1929/30 von Karl Schneider folgen. Gebaut wurde die Fabrik im Namen der C. H.F. Müller AG für die Firma Philipps, die noch heute von Philips genutzt wird. Schneider hatte in seinen Planungen einen Kompromiss mit den Vorgaben des Mutterkonzerns in Eindhoven schließen müssen, wobei die Produktionsgebäude mehr gestalterisches Gewicht erhielten als das Verwaltungsgebäude. Bemerkenswert sind die runden (Not)Treppenhäuser, die ursprünglich als reine Glaskonstruktionen konzipiert waren, sichtbare Betonköpfe der Hauptträger, um die Ecke geführte Fenster sowie Belüftungskanäle, die wie Balkone wirken.
Als drittes Beispiel deutscher Fabrikbauten folgt, als Hochburg der Schuhproduktion, die Schuhfabrik Guiard. in Burg bei Magdeburg, erbaut 1925 von Arthur Korn, der 1937 ins Exil ging. An diesem Bau zeigen sich der Einfluss der niederländischen „Stijl-Gruppe“ und ein Nachhall des Fagus-Werks von Gropius und Meyer. „Korns Verzicht auf Ornamentik führt zu einer Dynamik der Fläche“, so Ostermann. Während Korn bei der Schuhfabrik Guiard noch auf die Hervorhebung der plastischen Wirkung von Kuben und Wandscheiben setzt, stellt sich seine fünf Jahre später gebaute Gummiwarenfabrik - dieser ist ein Exkurs gewidmet – als „gläserne Fabrik" dar. In gerade einmal fünf Jahren macht sich an diesem Beispiel fest, wie rasant die Entwicklung in der modernen Formgebung der 1920/30er Jahre war.
Das erste Beispiel im niederländischen Fabrikbau ist die Fabrik HAKA in Rotterdam, 1931/32. von Hermann Friedrich Mertens. Bauherr ist ein genossenschaftliches Unternehmen der Nahrungs- und Genussmittelindustrie. Auf der Suche nach stilfreien Bauweisen verarbeitet Mertens in seinem Entwurf eine Maschinenästhetik des Neuen Bauens, die auf die neuesten Entwicklungen und deren innovative Formgebung der Massenproduktion eingehen. Dabei kopiert Mertens besonders gern Schiffsdetails wie Relings, Decks, Schornsteine und Bullaugenfenster.
Unter der Überschrift „Kosmetik für Mensch und Schuh“ geht es um die Erdal-Fabrik in Amersfoort, erbaut 1935-37 und geplant von Architekt Filip Anne Warners. Die Fabrik wurde in besonders kurzer Bauzeit errichtet, alles im eher traditionellen Backstein ausgeführt, was der nahen Innenstadt, bzw. dem historischen Stadttor gezollt gewesen sein könnte. Dennoch gelingt Warners, obwohl er Satteldächer und dekorative Gestaltungselemente einsetzt, ein moderner. dynamischer Gesamteindruck, unter anderem mit um die Ecke führenden Fenstern. Trotz der Wirtschaftskrise zu Beginn der 1930er Jahre verstand es Warners mit knappem Budget Repräsentativität und Nützlichkeit miteinander zu verbinden. Einzig die extrem hohe Turmspitze scheint nicht zur Firmenphilosophie gepasst zu haben, schließt Ostermann, da dieser auf dem Firmenlogo fehle. Die Turmspitze darzustellen, hätte aber graphisch das Logo Im wahrsten Sinne des Wortes auf die Spitze getrieben.
In ihrem letzten Beispiel, dem noch abschließende Betrachtungen und ein Ausblick folgen, befasst sich Ostermann mit einer Firma für optische Geräte dem Unternehmen Nedinsco in Venlo, 1928-30, einer Tochter der Jenaer Firma Carl Zeiss. Der Architekt Hans Schlag verwirklichte den in Skelettbauweise errichteten markanten Turmbau nach dem Vorbild amerikanischer Hochhäuser. Er sollte neben den funktionalen Ansprüchen auch den Vorgaben aus Jena nach größtmöglicher Transparenz und gemeinsamer Corporate Identity gerecht werden.
Alle sechs Fabrikbauten werden mit ihrem historischen Hintergrund beschrieben mit den Bauphasen, dem fertiggestellten Bau und der Nutzungsentwicklung vorgestellt und abgeschlossen mit der Rezeption und einem Resümee.
Das besondere Augenmerk Ostermanns liegt dabei auf der Wechselwirkung des Architekturschaffens in Deutschland und den Niederlanden. Zusätzlich behandelt Ostermann Fragen der Denkmalpflege sowie den zeitgenössischen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext, in dem die Bauten realisiert wurden.
Die Arbeit wurde mit dem Theodor-Fischer-Preis des Zentral Instituts für Kunstgeschichte ausgezeichnet.
8.4.2011
Gabriele Klempert
Ostermann, Ingrid: Fabrikbau und Moderne in Deutschland und den Niederlanden der 1920er und 30er Jahre. 426 S., 285 Abb. 27 x 21 cm. Ln. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2009. EUR 89,00 CHF 125,00
ISBN 978-3-7861-2582-2   [Gebr. Mann Verlag]
 
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