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a Synagogue for Babyn Yar

Rabbi Andrew Steiman schreibt uns seine sehr persönlichen Gedanken zur Neuerscheinung eines Buches über „A Synagogue for Babyn Yar“. Eine Mahnung und ein Urteil.


Babyn Yar – der ukrainische Ortsname für einen Ort des Schreckens. A Synagogue for Babyn Yar lautet der Titel eines Buches, welches mehr als ein Buch ist. Schon die Tatsache, dass dieses Buch nicht in Russland erhältlich ist, zeigt die Dimensionen an, um die es geht. Das kann bereits dem ukrainischen Ortsnamen im Titel dieses Buches geschuldet sein, welches im Russland dieser Tage keine Existenzberechtigung hat. Alles, was auf eine eigene Kultur der Ukraine hinweist, hat nicht zu sein - selbst Erinnerung daran nicht.
Babyn Yar – als Ort jahrzehntelang nur nach der russischen Ortsbezeichung Babi Yar auf der Landkarte zu finden. Und so ist es auch diesem Titel zu verdanken, dass das Buch, welches ursprünglich dem Denkmal vor Ort gewidmet war, zugleich zum Trotz gegen die Kehrtwende wird, die in der Erinnerungskultur in Russland vollzogen wurde und nun mit Bomben in der Ukraine erzwungen wird. Kehrtwende in der Erinnerungskultur: was in Deutschland zum Schlagwort aus dem Arsenal der AfD wurde, lässt Putin in Russland längst umsetzen – und Waffengewalt nun auch in der Ukraine. Nirgendwo wird das so deutlich wie in Babyn Yar.
Babyn Yar – das Buch zum Denkmal A Synagogue for Babyn Yar ist nun selbst ein Denkmal.
Ein Denkmal, ein Mahnmal. Zur Erinnerung an die Schrecken, die untrennbar mit diesem Ort verbunden sind. Zur Erinnerung an die fehlende Erinnerung, sowohl vor Ort als auch darüber hinaus, an jahrzehntelange Verdrängung und Verdrehung. Zur Erinnerung an die damit vollzogene Verlängerung der Würdelosigkeit. Zur Erinnerung an die Mühen, die nötig waren, um das wenigstens im Ansatz zu ändern. Zur Erinnerung an ein einzigartiges Konzept, welches endlich umgesetzt werden konnte, um an all das und viel mehr zu erinnern, als offenes Denkmal.
Das Denkmal ist eine einzigartige Synagoge am Ort des Schreckens. Einfühlsam kommt im Buch über diese Synagoge zum Ausdruck, wie sehr gerungen wurde um das Konzept hinter der Synagoge, hinter dem Denkmal. Architektonische Zitate zerstörter Synagogen der Umgebung verschmelzen mit Zitaten aus den jüdischen Quellen zu einer einzigartigen Komposition der Erinnerung, die erst aufgerichtet werden muss, wenn man sie erleben möchte. Ja, die Synagoge muss erst vom Betrachter aufgestellt werden, Schritt für Schritt aus einzelnen Elementen; wie ein Modellbausatz. Bevor man sie betreten kann, bevor man hineingehen kann, um zu beten, zu gedenken, oder einfach nur um innezuhalten, muss man sie erst selbst errichten. Wie ein Regenschirm, der zum Schutz ausgebreitet wird, nur anders: nicht um vor Nässe zu schützen, sondern vor Gedanken- und Würdelosigkeit. Ein überzeugendes Konzept, zumal man den Aufbau nur als Team bewältigen kann. In der jüdischen Tradition gibt es das Konzept des Minjan, der Betergemeinschaft, als Voraussetzung für das liturgische Lesen der Torah. Jeder ist wichtig, jeder zählt, jeder ist auf den anderen angewiesen. Zum Errichten dieser Synagoge gilt das gleiche Konzept. Wer in diese Synagoge hineintreten möchte, ist auf Mitmenschen angewiesen. Ohne Beistand steht man hilflos davor, einsam in der Erinnerung, einsam in der Gegenwart.
Einsam in der Erinnerung stand meine Großmutter immer bei ihren Gedanken an Kiew, ihrer Geburtsstadt, und an Babyn Yar, wo ihre Eltern und Geschwister ermordet wurden. Erschossen. Zusammen mit über 33.000 anderen Juden Kiews. Dafür brauchten die Deutschen zwei Tage.
Meine Oma entkam. Die Liebe hat sie gerettet: schon vor dem Krieg hat sie sich in den Schneidergesellen verliebt, der bei ihrer Familie zur Untermiete wohnte. Ihre Eltern, meine Urgroßeltern, schenkten dem frisch verheiratetem Paar die Reise nach Leningrad, wo mein Großvater eine Stelle antreten konnte in der ehemaligen Schneiderei des Zaren. Während die Familie meiner Urgroßeltern in Babyn Yar erschossen wurde, ihre leblosen Leiber den Rand der Schlucht hinab auf die Reihen anderer leblosen Leiber rollten, hungerten meine Großeltern in der Blockade von Leningrad, und mit ihnen ihre Kinder. Darunter meine Mutter. Ihnen zusammen gelang der Ausbruch aus der Blockade. Sie flohen dann weit in die Sowjetunion hinein, bis nach Usbekistan, und nach dem Krieg von dort auch hinaus.
Die Erinnerung an all das und viel mehr haben meine Mutter und Großeltern mir mit auf dem Weg gegeben. Kiew und Odessa, der Geburtsstadt meines Großvaters, wurden zu Sehnsuchtsorte. Nach Kiew zu fahren, oder nach Odessa, war im Kalten Krieg nicht möglich, und nach dem Kalten Krieg immer wieder aufgeschoben.
A Synagogue for Babyn Yar machte mir klar: Kaddisch [Gebet zum Totengedenken] zu sagen für meine Urgroßeltern, dort, wo sie um ihr Leben gebracht wurden, steht auf der To-Do-Liste meines Lebens. Mit meinen eigenen Kindern an meiner Seite. Ihnen die Erinnerung zu vererben, wo die blutgetränkte Erde schreit. Darunter Blut, welches genau die DNA aufweist, die in unseren eigenen Adern fließt. Das Blut der eigenen Ahnen. Von diesem Blut kommen wir, zu diesem Blut pilgern wir. Das ist unsere Via Dolorosa. Und wie die Pilger auf der Via Dolorosa werden auch wir das Bedürfnis spüren, an den Stationen des Leidens zu beten. Aber anders als die Pilger der Via Dolorosa kennen wir keine Auferstehung. Die Stationen des Leidens sind in Babyn Yar nicht auf einem Weg mit dem Trost uraltem Pflasters markiert, von kitschigen Souvenirläden gesäumt. Nur die blutgetränkte Erde. Dort wollen wir gedenken; zum Denkmal pilgern, beten, Kaddisch sagen. Etwas Trost brauchen wir schließlich doch, gerade weil es keine Aussicht gibt auf Rettung durch Auferstehung. Das Denkmal wird schon trösten. Schon die Lektüre dieses Buches tröstet im Voraus.
Nun ist dieses Buch zum Denkmal dieses Denkmals geworden, denn das Denkmal gibt es nicht mehr. Von Putins Raketen getroffen, liefert das zerstörte Denkmal, der zerstörte Synagogenbausatz, den Beweis gegen seine Lüge, dass es um das hehre Ziel einer „Entnazifizierung“ geht. Raketen gegen Erinnerung an Unmenschlichkeit. Eine Unmenschlichkeit löst die andere ab.
Die heutige Stimme der Unmenschlichkeit gibt ohne Unterlass bekannt: eine „militärische Sonderaktion“, nötig zur „Entnazifizierung“ örtlicher Eliten. Ist damit der ukrainische Präsident gemeint? Er ist Jude. Ist er etwa dann der Ober-Nazi? Mit ihm bin ich vielleicht um einige Ecken verwandt. Kann ein Jude mit einem Nazi verwandt sein?
Die Raketen auf das Denkmal waren keine Irrläufer – es gab in der Schlucht von Babyn Yar nichts als das Denkmal und dem Park drumherum. Das Denkmal wurde gezielt zerstört. Entnazifizierung?
An diesem Ort verübten Nazis das unvorstellbare Verbrechen, an zwei Tagen über 33.000 Juden erschossen zu haben – Frauen, Kinder, Männer, Greise. Durch Erinnerung daran werden die Schrecken aufgezeigt, zu der Nazis fähig waren und sind. Erinnerung kann schützen. Diese Erinnerung mit Bomben zu bekämpfen ist das Gegenteil von Entnazifizierung – es ist der Beweis für ein faschistisches Regime, das Erinnerung fürchtet. Nicht ohne Grund: Erinnerung bringt Vergleiche hervor, Vergleiche, die nicht sein dürfen. Also darf auch nicht erinnert werden. Und schließlich ist in der Erinnerung die Kraft, in der Gegenwart eine bessere Zukunft zu schaffen. Das ist es wohl, was die Raketen nach Babyn Yar gelenkt haben.
Wer immer noch an die Parole Putins von „Entnazifizierung“ glaubt, soll nach Babyn Yar kommen, und sich selbst ein Bild machen. Ein Bild des Schreckens an Vergangenheit, an Gegenwart und an Zukunft. Das zerstörte Denkmal mahnt – und fragt: was war hier, was ist hier? Soll hier etwas sein oder werden? An vielen anderen Orten der Ukraine schreit die verbrannte Erde nach Denkmälern. Und es werden immer mehr.
Das Denkmal in Babyn Yar sollte nicht nur an die Schrecken der Nazis erinnern, sondern auch an die Unterdrückung durch gelenkte Erinnerungskultur der Stalin- und Nach-Stalin-Zeit. Zerstörung der Erinnerung. Was bleibt, ist nichts, und noch mehr nichts.
Nur noch ein Buch. Das Buch steht nun nicht mehr im Bücherregal. Es ist umgezogen, zusammen mit seinem Bruder in der Kassette, das Buch An Atlas of Jewish Spaces. Diese Kassette hat nun einen Ehrenplatz eingenommen, gleich neben einer eingerahmten alten Fotografie meiner Großmutter. Auf der Rückseite des Fotos: der Stempel des Fotografen in Kiew. Vielleicht liegt auch er in der Schlucht von Babyn Yar. Von den Eltern und Geschwistern meiner Oma gibt es nicht einmal Bilder. Wie von den meisten der über 33.000 Juden Kiews, dessen Blut in der Schlucht von Babyn Yar schlummert.
Etwas von diesem Blut hat es in meine Adern und denen meiner Kinder geschafft. Unvergessen, dass es Liebe war, was dies möglich machte. Vielleicht lächelt meine Großmutter gerade deswegen so rätselhaft traurig auf dem alten Bild. Oma Mona Lisa. Das alte vergraute Bild steht in seinem schweren alten russischen Rahmen. Von dort zeigt das überlebte Lächeln auf A Synagogue for Babyn Yar. Das Lächeln gehört nun auch zum Atlas of Jewish Spaces. Irgendwie mysteriös, zerbrechlich und doch ewig. Ein Teil von uns.

02.04.2022
Andrew Steiman
An Atlas of Jewish Space and a Synagogue for Babyn Yar. Hrsg.: van Pelt, Robert Jan / Podwal, Mark / Herz, Manuel. Beitr. : Andrusenko, Galina. Axel, Nick. Verzier, Marina Otero. Cohen, Jean-Louis. 2 Bände. Englisch. 504 S. 275 meist fb. Abb. 23 x 17 cm. Pb. Park Books Verlag, Zürich 2021. EUR 48,00 CHF 49,00
ISBN 978-3-03860-267-5   [Park Books]
 
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