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Dekoratives Delirium: Visionen und Utopien der Architektur

Architekten sind Immer- und Überallzeichner. Ideen, Projekte und bisweilen kühne Architektur-Utopien schwirren pausenlos in ihren Köpfen herum - bis sie irgendwann zu einem Stück Papier greifen und loslegen. Der Architekt Alvar Aalto soll einmal gesagt haben: "Gott schuf das Papier, um Architektur darauf zu zeichnen."
Etwa 200 Architekturzeichnungen des 20. Jahrhunderts aus der Sammlung des Museum of Modern Art zeigt das Katalogbuch "Visionen und Utopien" der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main - und die Künstlerliste liest sich wie ein "Who’s Who" der modernen Architektur von Otto Wagner bis zur Dekonstruktivistin Zaha M. Hadid. Den Auftakt bildet Otto Wagners fast zwei Meter lange Tuschezeichnung eines Entwurfs für die Wiener Ferdinandsbrücke. Die Modernität der 1896 entstandenen Zeichnung ist frappierend - und Wagners Strich von sachlicher Anmut. Um 1915 entstanden Lithographien von Frank Lloyd Wright, die nicht nur den großen Architekten, sondern vor allem den Zeichner und Japanliebhaber entdecken lassen. Wrights ganzseitige Zeitungsannoncen warben für seine kostengünstigen Häuser aus seriell vorgefertigten Elementen und waren nach dem Vorbild japanischer Holzschnitte gestaltet.
Zu den bekanntesten Blättern gehört Mies van der Rohes Kohle- und Bleistiftzeichnung für ein Hochhaus an der Berliner Friedrichstraße aus dem Jahr 1921. Der spitze, kristallin anmutende Glasturm mit den aufgelösten Mauerflächen ist der vielleicht vollkommenste Ausdruck des expressiven Bauens der zwanziger Jahre. Vor allem diese Arbeit beweist die Wichtigkeit der Architekturskizze als historisches Dokument: Obwohl das Hochhaus nie gebaut wurde, gilt die Entwurfszeichnung als hervorragender Beleg für den Geist der expressionistischen Architektur in Deutschland.
Über Buckminster Fullers nur drei Tonnen schweres "Dymaxion-Haus" führt der Katalog zu den städtebaulichen Entwürfen von Le Corbusier, der früh begriffen hatte, dass es die wichtigste Aufgabe der Architektur sein würde, neuen, günstigen Wohnraum zu schaffen. Mit Konzepten wie "Eine zeitgenössische Stadt von 3 Millionen Einwohnern" aus dem Jahr 1922 wurde Le Corbusier zum einflussreichen und umstrittenen Stadtplaner, der nach dem zweiten Weltkrieg mit der "Unité d’Habitation" in Marseille eine Utopie des kollektiven Wohnens Wirklichkeit werden ließ, die heute als gleichermaßen visionär und brutal beschrieben wird. Ein humorvoller Kommentar auf die kleinen Wohnparzellen Corbusiers ist eine Collage Albrecht Heubners aus dem Jahr 1928. In seiner winzigen "Mindestwohnung", einer Negativutopie des städtischen Bauens, kann ein erwachsener Mensch nur stehen, wenn er sich bückt und die Arme fest um seine Waden legt.
Mitte der sechziger Jahre war es etwa die englische Architektengruppe "Archigram", die neue, aufregende "Visionen und Utopien" zu formulieren wusste. Kaum etwas ist gebaut von Archigram, das Werk existiert vor allem in den neun Ausgaben der Gruppenzeitschrift. Archigram formulierte eine extreme Gegenposition zum Funktionalismus Le Corbusiers: Wandelnde Städte und tragbare Häuser finden hier genauso Platz wie die farbenfrohen Zeichen der Pop-Art und die Symbole der Gegenkultur. Neben einer großen Farbtuschezeichnung von Peter Cook springt vor allem eine perspektivische Ansicht von Ron Herron, ebenfalls ein Mitglied von Archigram, ins Auge. Ron Herron beschrieb sich selbst als einen Architekten, der versucht, Bauen, Technik und Kunst zu verflechten, um etwas "Besonderes" für den Benutzer zu produzieren. Seine Collage aus dem Jahr 1966 "Walking City on the Ocean" zeigt eine Reihe von riesigen, panzerähnlichen Fahrzeugen, die alle Elemente urbanen Lebens in sich tragen und sich zudem auf dem Wasser bewegen können.
Viele Architekturcollagen kann man neu entdecken, wie etwa die Serie "Exodus oder die freiwilligen Gefangenen der Architektur" von Rem Koolhaas und Elia Zenghelis aus dem Jahr 1972, eher Bildergeschichte oder Storyboard als Architekturzeichnung, die Koolhaas’ frühere Tätigkeit als Drehbuchautor spiegelt. Die Eröffnungsszene mit dem Titel "Erschöpfte Flüchtlinge werden zum Empfang geführt" offenbart die tiefe Skepsis und Kritik, mit der Architekten der "Unwirtlichkeit der Städte" begegneten: Dunkle Mauern, Panzersperren und tiefe Gräben umgeben eine Skyline, der sich die Flüchtlinge nähern - in einem nach Koolhaas "beständigen Zustand ornamentaler Ekstase und dekorativen Deliriums, einer Überdosis an Symbolen".
Postmodernismus und Dekonstruktivismus, die großen Architekturstile der achtziger und neunziger Jahre sind etwa mit einer Perspektive Ricardo Bofills und einer Faserstiftzeichnung von Robert Venturi und John Rauch vertreten. Doch Venturis Dictum des "Less is bore", die Abwendung von der Nüchternheit, gilt bereits heute als überwunden. Und auch die zersplitterten Baukörper des Dekonstruktivismus von Daniel Libeskind oder Zaha Hadid gelten heute aus Auslaufmodell: Die neuesten Arbeiten der israelischen Architektin bestechen wieder durch traditionsbewusste Eleganz.
Hadid hat das utopische Wesen der Architekturzeichnung im Kern erkannt, wenn sie im Katalog schreibt: "Die Zeichnung ist eine Linse, die sonst nicht wahrnehmbare Aspekte offenlegt; mit ihrer Hilfe lässt sich verstehen, wie sich die Dinge wandeln, entwickeln und wie sie nützen; sie dient nicht dazu, eine Form in einer bestimmten Art und Weise herauszuarbeiten, sondern zur Darlegung der Möglichkeiten dessen, was sie werden kann."
Die jüngsten Arbeiten stammen von der amerikanischen Architektin Lauretta Vinciarelli. In ihrem im Jahr 2000 entstandenen "Orange Sound"-Projekt entfernt sie sich vom Feld der Architekturzeichnung weiter als jeder andere. Die geheimnisvoll leuchtenden Aquarellfarben ihrer Blätter lassen an die Farbfeldmalerei Mark Rothkos denken, vielleicht auch an die Skulpturen und Zeichnungen von Donald Judd, wie im Katalog zu lesen ist. Die Grenzen zwischen Kunst und Architektur hat Vinciarelli längst hinter sich gelassen. Das einzige was bleibt, ist ein diffuser Lichtraum.
Dass der Begriff der "Vision" von neuer Aktualität ist, beweist auch ein anderer Ausstellungskatalog aus dem Verlag der Buchhandlung Walther König. Der von Rainer Stamm und Daniel Schreiber herausgegebene Band zu einer Wanderausstellung zeigt "Architektonische Visionen des Expressionismus" - und auch hier sind es vor allem Skizzen, "Ideal-Entwürfe" und Projektzeichnungen, die ins Jetzt gerettet wurden. Schon im Vorwort verraten die Herausgeber, um was es ihnen geht: „Die Architektur des Expressionismus ist ein schillernder Januskopf. An den architektonischen Visionen auf Papier - in den phantastischen Blättern von Bruno Taut, Hermann Finsterlin, Wenzel Hablik, Wassili Luckhardt, Hans Scharoun, Mies van der Rohe und anderen - fasziniert uns bis heute der Erfindungsreichtum und die Radikalität der Entwürfe, ihre utopische Kraft. Doch üben sie vielleicht gerade deshalb eine solch starke Anziehungskraft aus, weil diese Entwürfe weit davon entfernt sind, gebaute Wirklichkeit werden zu können." Das Buch versammelt zwanzig Texte zu den Architektur-Utopien des Expressionismus, geordnet in die Themenbereiche "Genius, Gemeinschaft, Gesamtkunstwerk", "Von Arkadien nach Metropolis", "Vorwärts in die Vergangenheit", "Transzendenz und Trivialität", "Sozialismus und Nationalsozialismus" und "Backsteinbauten und Glaspaläste". Wolfgang Pehnt, der Doyen der deutschen Architekturkritik, hat dreissig Jahre nach der Erstauflage seiner "Architektur des Expressionismus" eine sachkundige Einführung geschrieben, die auch die neuesten Entwicklungen der Architektur einbezieht.

2003-07-05
Marc Peschke
Visionen und Utopien. Architekturzeichnungen aus dem Museum of Modern Art. 2003. 256 S. 144 fb. Abb.25 cm. Kst EUR 59,00
ISBN 3-7913-2814-X
 
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