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Ostmoderne-Westmoderne

Über Grenzen denken, Zusammenhänge erkennen, Narrative aufbrechen, Erklärungsmodelle auf den Kopf stellen. All das ist nicht jedermanns Sache, denn es ist keinesfalls leicht. Beim Versuch, die vor-interpretierte Welt neu zu ordnen knirscht es bisweilen gewaltig im Getriebe. Man bewegt sich auf unausgetretenen Pfaden, kennt weder die Richtung noch das Ziel und man braucht einen entsprechend langen Atem. Man riskiert, dass Viele abwinken, weil sie das Bekannte nicht wiedererkennen.
Walter Scheiffele legt mit „Ostmoderne, Westmoderne“ ein im besten Sinne merkwürdiges Buch vor. Er führt exemplarisch vor, dass sich hinter den Meistererzählungen der Moderne historische Tiefenschichten verbergen, deren Verläufen zu folgen sich lohnt. Am Beispiel von sieben namhaften Gestaltern – Mart Stam, Selman Selamangic, Liv Falkenberg, Hans Gugelot, Herbert Hirche, Franz Ehrlich, Rudolf Horn – wird das Bild einer Avantgarde als ästhetische, erzieherische, soziale und politische Bewegung deutlich, deren Ideen und Lösungen trotz Systemkonkurrenz den „Eisernen Vorhang“ penetrierten und sich in ständigem Austausch weiterentwickelten, wenngleich sie auch in BRD und DDR auch unter vollkommen anderen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen umgesetzt wurden.
Wer als Leser ebenfalls einen langen Atem aufbringt, wird reichlich belohnt, muss (oder darf) aber durchaus selbst weiter- und zu Ende-denken. Das Buch ist durch seine Struktur (Bild- und Textteil sind streng getrennt, aufsatzartige Texte und Interviews wechseln sich ergänzend ab) beinahe wie ein Puzzle aufgebaut. Es setzt sich das Bild erst allmählich zusammen. Und dabei passiert eben das Unvermeidliche: vermeintlich sichere Kategorien wie „Ost“ und „West“, „Avantgarde“ und „Reaktion“, „Kapitalismus“ und „Sozialismus“, „Handwerk“ und „Industrie“, „Architektur“ und „Design“ geraten ins Schwimmen. Zeitlich und räumlich sind die Bögen von Scheiffeles Erzählung so gefasst, dass die großen Schwünge der Entwicklung sich mit den vorgeführten Einzelbeispielen verbinden, verschlingen. Aber das geschieht erst allmählich – beim Erschließen.
Im Zentrum des Buches stehen die „Deutschen Werkstätten Hellerau“, eine aus der Reformbewegung um 1900 hervorgegangene Möbelproduktion, deren Fertigungsmethoden sich analog zur Industrialisierung im Bauwesen entwickelten. In einer Fülle von Einzeltexten zeigt Scheiffele auf, wie technische, gestalterische aber auch soziale Impulse für Innovationen sorgten, die dann im spätestens im Massenwohnungsbau die flächendeckende Verbreitung des „modernen Designs“ hervorbrachte. Aber diese Geschichte verlief eben nicht einfach linear, wie es die Selbsthistoriographie der Moderne glauben machen wollte. Neben „konservativen“ Strömungen (und einmal abgesehen vom Gelsenkirchner Barock), die der radikalen Avantgarde entgegenstanden und das Thema Rückbezug zur Geschichte im Gesamtverlauf des 20. Jahrhunderts immer wieder fruchtbar machten, gab es auch zahlreiche Konkurrenz untereinander. Oder Schicksalsschläge. Mart Stam, einer der prominentesten Impulsgeber am Beginn der von Scheiffele skizzierten Entwicklung, musste gleich zweifach feststellen, dass seine ganzheitliche, volkserzieherische Auffassung von Gestaltung und Lehre die Behörden und Kulturverwaltungen gegen sich aufbringt. 1950 versetzte man ihn von der Dresdner Akademie nach Berlin-Weißensee; zwei Jahre später bekam er dort Hausverbot und verließ die DDR.

Man kann dieses Buch nicht bloß lesen, sondern regelrecht erfahren. Dazu hat Scheiffele gemeinsam mit der Gestalterin Renate Keil ein ebenso subtiles wie kongeniales Grafikdesign entwickelt, das perfekt in die anspruchsvolle Linie des Verlags „spector books“ passt (bis hin zum weichen Papier und dem zartgelb gefärbten Vorsatz). Was erfährt man dabei? Zum Beispiel, dass unsere Auseinandersetzung mit der Moderne nicht abgeschlossen, sondern als offenes Projekt anzusehen ist. Dass es uns Heutigen weiter Neues zu sagen hat: aus wissenschaftlicher Sicht, in Fragen der Ästhetik und Ethik, aber auch im Hinblick auf die Frage, wie wir unser Leben an sich gestalten wollen. Insofern macht Scheiffeles Werk den sozialen und politischen Kern der Moderne wieder ganz neu erfahrbar und schlägt – elegant – einen Bogen in die Gegenwart.

18.12.2020
Christian Welzbacher
Walter Scheiffele. Ostmoderne-Westmoderne. 53693 M 125 INwand 602 MDW. Scheiffele, Walter. Designed von Keil, Renate. 382 S. z. T. fb. Abb. 27 x 22 cm. Spector Verlag, Leipzig 2019. EUR 38,00.
ISBN 978-3-95905-326-6
 
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