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Spätgotik - unbeliebt und unübersichtlich

In der zweiten Hälfte des 15. Jhs. und um 1500 gab es in Deutschland einen Bauboom sondergleichen, der allerorten in den Städten und Dörfern spätgotische Kirchen und Kapellen aus dem Boden "schießen" ließ. Das hat mit der Frömmigkeitspraxis zu tun, insbesondere mit der allgegenwärtigen Memoria. Sie ließ zur gleichen Zeit ein spezielles Pilgerwesen blühen wie ebenso ein vorbildliches "Armen"- Wesen entstanden war - was beides wiederum "kirchliche" Architektur erforderte. Im Hintergrund war es die immer breiter werdende Bewegung der "devotio moderna", welche auf die persönliche Frömmigkeit setzte und die ebenfalls diesen Bauboom auslöste und zugleich auf die Reformation zulief bzw. zu dieser "umkippte".
Es gab wohl keinen Ort, an dem nicht gebaut wurde. Und so bestimmen noch heute die spätgotischen Kirchen und Kapellen die Ortsbilder, selbst dann, wenn sie später überformt wurden. Sie sind so sehr Bestandteil unserer baulichen Gegenwart, dass wir sie kaum noch wahrnehmen. Dank modernen Desinteresses oder Gewohnheit empfindet man das spätgotische Baugeschehen als eine unübersichtlich ornamentale - "unwahrhafte" Bauepoche - so dass viele Kirchen ungeniert ihre spätgotische Architektur verunstalten. Das gilt auch für die Kunstgeschichte wie für die Denkmalpflege: Spätgotik hat weder Wert noch zieht es systematisches Interesse auf sich.
Dies scheint sich nun etwas zu ändern, wenigstens in der kunsthistorischen Literatur. Da in den Städten und Dörfern die fortschrittsgläubigen Parteipolitiker hausen wie nie, kommt diese Belehrung gerade recht und es sei der Überblick zur gotischen Architektur empfohlen, den Norbert Nussbaum - Deutsche Kirchenbaukunst der Gotik, Darmstadt 1994 - in 2. bearbeiteter und erweiterter Auflage vorgelegt hat. Er entwickelt die Formenwelt mehr oder weniger linear. Die spätgotischen Erscheinungen und Besonderheiten werden von ihm hergeleitet und zeitgestaffelt verfolgt. So kann man zwar "ehen" lernen, aber das "Verstehen" bleibt auf der Strecke. Es fehlen nämlich die historischen Gründe für die Schübe des spätgotischen Baubooms ebenso wie die Mechanismen des spätgotischen Baubetriebes, also die Hüttenpraxis, von den technischen und entwurfssystematischen Fragen gar nicht zu reden. Bloße Formengeschichte ist heute obsolet.
Besagter Bauboom wurde unter anderem auch durch die Organisation des Bauwesens, durch die Bauhütten und deren Meister, begünstigt. Sie vermehrten sich nicht nur durch Arbeitsteilung , sondern auch gerade die Meister waren an vielen Bauten tätig, teils parallel. So entstanden weiträumig ähnliche Bauten und regionale Beziehungen, deren enge Grenzen durch Landesherrschaften bedingt waren, etwa in Württemberg-Unach. Weit streuende Hüttenverbände wie die "Frankfurter Schule" in der Nachfolge Madern Gertheners wurde rheinauf bis Basel und rheinab bis Xanten tätig. Einzelne Bauhütten an Großbaustellen, wie am Ulmer Münster, bildeten Scharen von Steinmetzen, Bildhauern und Baumeistern aus. Und einen Baumeister wie Burkhard Engelberg (um 1450 - 1512) trieb es von Augsburg nach Ulm, Bozen, Nördlingen, Bern und er baute neben Kirchen auch vielerorts Brunnen.
Das hat kürzlich Franz Bischoff gerade für Burkhard Engelberg mühsam "auseinandergerechnet". Seine Dissertation (1987, gedruckt 1999!) bietet tiefe Einblicke in die Hüttenstrukturen, mit denen Engelberg hat arbeiten können. Sie kontrastieren zu denjenigen des Brüdertrios Richmann aus dem Steinmetzort Rorschach, die als „Kleinhütte" kirchliche Architektur im überschaubaren Bodenseeraum zwischen Reichenau und Rorschach schufen. Diese unterscheiden sich wiederum von dem „Landesbaumeister" Peter von Koblenz (aus Werkhausen am Mittelrhein), welcher zunächst als Nebenmeister mit Alberlin Jörg gearbeitet hat und dann als Baumeister für Graf Eberhard im Barte von Württemberg - Urach tätig war sowie trotz seiner landesweitverfolgbaren Bauten in Urach wohnte (gest. 1501).
Kathrina Laier-Beifuss Dissertation von 1995 zeichnet dessen Lebens- und Arbeitsstationen in dem nun erschienenen Band des Imhof-Verlages nach, in welchem die Bauten Peters nur in Auswahl vorgestellt werden, immer anhand der Steinmetzzeichen. Indes sind nur erhaltene Bauten behandelt und solche, welche Graf Eberhard im Barte nachweislich initiiert hat: Es wurde ein ganz enger, baugeschichtlicher Rahmen gezogen, der beispielsweise den Kreuzgang der Benediktiner-Abtei Hirsau ebenso unberücksichtigt läßt wie das von Gabriel Biel gegründete Stift der "Brüder vom Gemeinsamen Leben" St. Peter auf dem Einsiedel im Schönbuch, in welchem Eberhard sogar "Mitglied" war und in dem sich die württembergischen Stände repräsentierten. Es wurden noch nicht einmal Zusammenfassungen der bisherigen Forschung dazu gegeben.
Und damit sind wir bei einem Problem, das jeden Kunstinteressierten bedrückt, wenn er diesen auf den ersten Blick durchaus repräsentativen Band in die Hand nimmt: Es ist eben keine Darstellung eines Ausschnittes aus der vielgestalten "Kunstgeschichte der Spätgotik"! Die Dissertation rundet sich nicht so, dass ein interessierter Leser befriedigt werden würde, denn es handelt sich "nur" um eine striktest baumonographische Doktorarbeit. Und wenn zwischen deren Abgabe und Druck sechs Jahre verstrichen, so ist noch nicht einmal die zwischenzeitlich erschienene Literatur eingearbeitet, das Literaturverzeichnis auf aktuellen Stand gebracht.
Es fehlen vor allem selbst knappe Texte zu den Bedingtheiten spätgotischer Architektur. Das beginnt mit den Aufträgen, bestimmte Architekturtypen zu bauen. Ist denn die Urarcher Amanduskirche am Residenzort Eberhards im Barte, Urach, von den liturgischen Erfordernissen her bestimmt, die sich schlagartig änderten, als Gabriel Biel ein Fraterhaus der "Brüder vom Gemeinsamen Leben" gründete und daraufhin Eberhard die neue Stiftskirche bauen ließ? Wie stehen die anderen Chöre des Peter von Koblenz unter diesem Gesichtspunkt zum Amanduschor, an welchem Peter noch nicht mitgearbeitet hat? Wie ist das Verhältnis von Bautyp zu Gründern - es sind die gleichen! - am Stift St. Peter auf dem Einsiedel?
Spätgotische Architektur und Plastik sind stets im Spannungsfeld zwischen "Stil", Material, Bedeutung und Auftraggeber zu sehen. Dabei definiert sich "Stil" zumeist als Melange aus Zeitmode, regionalen oder schulmäßigen Zusammenhängen und personenbedingtem Formengebrauch. Gerade dies hat Laier-Beifuss mißachtet und entzieht damit dem "allgemeinen Leser" eine Grundbedingung spätgotischer "Kunst" -Produktion. Was hat es denn für einen Grund, wenn man heute durch das Reform-Benediktinerkloster Blaubeuren geht und an vielen Stellen sowohl der Groß- als auch der Kleinarchitektur an den Mittelrhein gemahnt wird? Peter von Koblenz, der wohl aus dem Steinbruchort Werkhausen (Westerwald) stammte und in dem namengebenden Koblenz gelernt hat - etwa an der dortigen Liebfrauenkirche, welche die "Frankfurter Schule" um und nach Madern Gerthener (1430) erbaute, worauf in diesem Zusammenhang schon Klaus Ehrlich hinwies - und das "Mittelrheinische" erst nach den Bauzuständen von Alberlin Jörg an St. Amandus festzustellen ist, wäre dies eben eine der wichtigen kunsthistorischen Aussagen gewesen. Sie hätte die Stilfrage deutlicher beantwortet und den berufenen "allgemeinen Leser" zu Kernfragen der Spätgotik hingeführt.
Das hier an die Person des "württembergischen Staatsbaumeisters" Peter von Koblenz gebundene Formengut fände im Kloster Blaubeuren eine plausible Begründung, wenn es so "mittelrheinisch" wirkte. Und das für eine Zeit, in welcher Bauwerke wie Kleinarchitektur (Portale, Maßwerk u.a.) derart von Ornamentalem übersponnen werden, daß deren Eigenwert sowohl formen- als auch personengeschichtliche Konturen bekommen muß.
Für andere Werkmeister - alle auch tätige Bildhauer - ist die formengeschichtliche Dimension ihrer Biographie schon längst erarbeitet und sind Schulzusammenhänge oder der "Stil einer Kunstlandschaft" sowohl auf Hüttenstrukturen als auch deren personelle Zusammensetzungen zurückgeführt. So ist etwa eine wichtige Parallele zu Peter von Koblenz/Werkhausen der Bildhauer und - erst als alter Mann nachmalige Berner Münsterbaumeister Erhart Küng ("Koning"), der aus dem westlichen Westfalen als "Meisterknecht" an die "Frankfurter Schule" kam, von dort gemeinsam (?) mit Konrad Kuene van der Hallen nach Köln ging und dann, mutmßlich über Straßburg, nach Bern, die vielfigurige Portale zu schaffen. So brachte er das Ulmer Formengut nach Hans Multscher in frankfurtischer und kölnischer Brechung in die Alpen. Es strahlte bis an den Bodensee aus und traf dort auf den Einfluß des Münchners Erasmus Grasser, der an Nikolaus Gerhaert van Leyden geschult war. Analog zum Bildhauer - "Stil" auch die Architektur, insbesondere besagte Kleinarchitektur.
Nur: das fehlt bei Laier-Beifuss, ja sie blendet eine "umfassende Untersuchung" bewußt aus (S. 208f.). Damit sind Kernfragen weder auf den Punkt zur Erkenntnis spätgotischer Architektur gebracht, keine wirkliche Formengeschichte betrieben, die sich in Personen- und Schulzusammenhängen widerspiegeln, und auch keine "Kunstlandschaft" der Spätgotik, nämlich das kirchenreformerische und vorlandeskirchliche Württemberg, ein- und zugeordnet. Was bleibt sind die "nakten" Baumonographien restriktiv ausgewählter Bauten, die sie nur bedingt zu "Gestaltungsprinzipien" führten (S. 177ff.). Wer beispielsweise den Wappenaufsatz des Fürstenportales neu St. Amandus/Urach am Südportal der ehem. Stiftskirche zu Ortenberg (Vogelsberg) vorgebildet glaubt (Original nun im Burgmuseum Eppstein/Taunus), wird als Kunstinteressierter ebenso alleingelassen wie bei Maßwerkähnlichkeiten bei den eng datierbaren Zirkelschlägen im Nikolaus-Hospital zu Cues/Mosel. Und was haben württembergische Fasen- oder Kehlensporne als Anläufe mit den fast einhundert Jahre älteren in der Turmhalle des Ulmer Münsters zu tun, wenn sie auch am Südportal des Frankfurter Domturms nur zwei Generationen vorher vorkommen? Nochmals: das Kunstgeschichtliche ist etwas arg ausgedünnt.
Wenn die "Brauchbarkeit" dieses Buches für den Allgemeininteressenten an Kunstgeschichte eingeschränkt ist, so muß das auch dem Verlag angelastet werden. Das fängt an mit einer ungeschickten Auswahl von Detailaufnahmen (besagte Anlaufsporne muß man mit der Lupe suchen), setzt sich fort in der Unvergleichbarkeit von Grund- und Aufrissen (ungleiche Maßstäbe ohne Maßstabangaben und gelegentlich auch ohne abgreifbare Meßlatte) oder zu schattenverunklärten Photographien; und es endet noch lange nicht damit, dass gelegentlich mittelalterliche Blickachsen nicht eingehalten werden und geradezu formverfälschende Vexierbilder entstanden (Beispiel die einleitende Abb. 1: die Photo-Achse suggeriert eine andere Chorform). Das alles ist ebenso kunstgeschichts- als auch leserunfreundlich wie ein fehlendes Orts- und Namenregister, wenn es doch gerade auf Orte (auch Örtlichkeiten innerhalb eines Bauwerkes) und Namen von wie auch immer Beteiligten ankommt.
Das ist ebenso mangelnde Redaktionsarbeit des Verlages wie der unangenehme Rohzustand der Literaturangaben. Vor allem aber: Offenkundig hat er nicht dazu gedrängt,durch inhaltliche Erweiterung aus der Dissertation ein für die Allgemeinheit lesbares Kunstbuch zu machen, das dem (vorgebildeten!) Leser wesentliche Fragen zur spätgotischen Architektur beantwortet, eben anhand eines konkreten Beispiels in einer kleinräumigen "Kunstlandschaft", die sich hier - dazu noch personengebunden - als "Auftrags-Landschaft" auflösen läßt. Ein solch lesbares Kunstbuch hätte "nur" der einarbeitenden Rezeption anderer, mehr oder weniger verstreuter Literatur bedurft. So bleibt es eben eine Dissertation (über deren Inhalt und Forschungsrelevanz hier nicht zu berichten ist), die man nicht in dieser Weise zu einem "Prachtband" hätte stilisieren müssen. Der klassische Dissertationsdruck hätte dafür vollkommen ausgereicht und die (vermutlich von der Autorin getragenen) Kosten wären geringergehalten. Nein, ein Kunstbuch, das wir brauchen, ist dies eben nicht.

Hier genannte Titel:
Franz Bischoff: Burkhard Engelberg. „Der vilkunstreiche Architektor und der Stadt Augspurg Werke Meister". Burkhard Engelberg und die deutsche Architektur um 1500. Anmerkungen zur sozialen Stellung und Arbeitsweise spätgotischer Steinmetzen und Werkmeister (Schwäbische Geschichtsquellen und Forschungen, ... Bd. 18), Augsburg (Wißner) 1999 (=Phil. Dies. Bamberg 1997). ISBN 3-89639-157-7
Norbert Nussbaum: Deutsche Kirchenbaukunst der Gotik, 2. völlig neu überarbeitet Auflage, Darmstadt (Wissenschaftl. Buchgesellschaft) 1994 (Erstauflage Köln 1985 mit dem Untertitel: Entwicklung und Bauformen). ISBN 3-534-12542-8
Wolfgang Erdmann
Laier-Baifuss, Katharina: Spätgotik in Württemberg. Die Kirchenbauten des Peter von Koblenz. 03/2001. 240 S., 250 z.T. farb. Abb. Pp DEM 128,-
ISBN 3-932526-41-4   [Michael Imhof]
 
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