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Die Erfindung des Rades

In seinem neuen Buch geht der Sprach- und Kulturwissenschaftler Harald Haarmann einem der bahnbrechenden technischen Errungenschaften der Menschheitsgeschichte, dem Rad, nach. In dem schmalen, bei C. H. Beck erschienen Band, folgt der Autor den bislang spärlich vorliegenden archäologischen Hinterlassenschaften als auch schriftlichen und ikonographischen Quellen. Interessant ist dabei unzweifelhaft, dass es sich hierbei, wie bereits einige Forscher vor Haarmann festgestellt haben, keine Erfindung ist, die primär aus dem Transportwesen stammt. Vielmehr handelt es sich um eine Innovation, die erstmals in der Gefäßproduktion als Töpferscheibe Anwendung fand. Der erste, bis heute bekannte archäologische Nachweis soll aus Varvareuca in der heutigen Republik Moldau gelegen (Haarmann auf S. 24 zitiert offensichtlich noch die Benennung aus der älteren Literatur als Varvarovka in der Ukraine) stammen (vgl. L. Ellis, The Cucuenti-Tripolye Culture, Oxford 1984, S. 115–116) und datiert in das 5. Jt. v. u. Z. H. Haarmann stellt die Innovation daher auch als eine der von ihm seit einigen Jahren erforschten Donauzivilisation heraus, die er auch einem breiteren deutschen Publikum als „erste europäische Hochkultur“ (S. 19; vgl. Haarmann, Das Rätsel der Donauzivilisation, C. H. Beck, München 2011) bekannt gemacht hat. Wenngleich dieser archäologischen Fazies mit Sicherheit Aufmerksamkeit gebührt, sind doch einige Interpretationsschlüsse Haarmanns, die auch im vorliegenden Buch wiederholt werden, zumindest in Zweifel zu ziehen: So etwa die Entwicklung der Donauschrift anhand der in Rumänien gefundenen Tontäfelchen von Tartaria (S. 22), die möglicherweise moderne Fälschungen darstellen [hierzu kritisch: E. Qasim, Die Tartaria-Täfelchen – eine Neubewertung, in: Das Altertum 58, 2013, S. 307–318].
Durch Ideentransfer im Zuge von Handelskontakten gelangte die neue technische Errungenschaft des Rades im 4./3. Jt. v. u. Z. schließlich auch in den Vorderen Orient, wo sie nicht nur archäologisch in Gräbern, sondern auch als Piktogramme nachgewiesen sind (S. 55–57). H. Haarmann lässt anhand der bislang nur kruden archäologischen Quellen die weitere Verbreitung des Wagens in Mitteleuropa, die Induskultur bis nach China (ab dem 2. Jt. v. u. Z.; S. 68 ff.) nachvollziehen. Dabei ist die archäologische Datenbasis freilich sehr unterschiedlich und reicht von Wagen und Karren, über Modelle dieser Objekte, Darstellungen bis hin zum archäologischen Nachweis von Wagenspuren (z. B. in Flintbek in Deutschland, ca. 3400 v. u. Z.; S. 66). Ein Problem stellen dabei selbstverständlich die unterschiedliche Erhaltungsbedingungen sowie – im Falle der diskutierten Wagendarstellungen, die Interpretation dieser Piktogramme dar. Neben dem vierrädrigen, vor allem für den Warentransport genutzten Wagen, kommt schließlich im 2. Jt. v. u. Z. auch gehäuft der vorrangig militärisch genutzte Streitwagen auf. Auch diese Innovation, so scheinen es zumindest die bisherigen archäologischen Funde zu bestätigen, dürften aus dem Einflussgebiet der Donauzivilisation kommen: H. Haarmann verweist hierbei auf den Fund eines Streitwagens aus einem Grab im heutigen Ural, der mit der Sinashta-Kultur verbunden wird (S. 79f.). Im Folgenden spricht er daher auch davon, dass das Konzept von den „indoeuropäischen Streitwagenleuten aus Zentralasien“ entsprechend weitergetragen worden ist (S. 86ff.). Große Bedeutung hatte die Innovation für die Kriegsführung, der Streitwagen veränderte nicht nur die Waffentechnologie und Kampftechnik, sondern beeinflusste auch nachdrücklich das Kräfteverhältnis im Nahen Osten, wie dies eindrücklich die Mitanni, Hethiter etc. aufzeigen lassen.
Eine wichtige Station in der Entwicklung der Streitwagentechnologie stellt Ägypten dar; wobei davon auszugehen ist, dass die Innovation ebenfalls von außen, durch die Hyksos ins Niltal gelangte. Inwieweit der Ausbau des Ideentransfers tatsächlich auch über die Heiratspolitik der ägyptischen Pharaonen erfolgte, wie dies H. Haarmann suggeriert, muss jedoch sicherlich kritisch gesehen werden. So behauptet er, dass sowohl die ägyptische Königin Teje, als auch Nofretete Mitanni-Prinzessinnen waren und ihnen somit eine große Rolle für die Friedenspolitik zwischen den Mitanni und den Ägyptern zugekommen sein soll (S. 91). In der ägyptologischen Fachliteratur wird die These, Nofretete sei eine fremdländische Prinzessin gewesen jedoch seit einiger Zeit kritisch betrachtet (Vgl. Seyfried, Nofretete: Was bleibt außer Schönheit?, in: Seyfried (Hrsg.), Im Licht von Amarna, Petersberg 2012, S. 189–190); einige gehen vielmehr sogar davon aus, es habe sich um eine Angehörige der ägyptischen Oberschicht gehandelt (vgl. Dodson/Ikram, Royal Families, Cairo 2004, S. 146–147)).
In Kapitel 5 und 6 widmet sich der Autor schließlich der Bedeutung des Rades in der Überlieferung unterschiedlicher Mythen, Riten und Religionen, wobei er erneut einen recht weit gefächertes Betrachtungsnetz auswirft und sowohl die griechische Mythenwelt, den Buddhismus und Hinduismus und mesoamerikanische Kulturen wie etwa die Maya in seine Betrachtungen mit einbezieht (S. 110–144). Bemerkenswert ist dabei, dass das Rad zwar in der Mythologie und in Form von Zahnrädern durchaus in den mesoamerikanischen Kulturen eine Rolle spielte, hier jedoch weder der Ideentransfer zur Entwicklung der Töpferscheibe noch die eines Transportmittels vollzogen worden ist (S. 139). Sehr kurz gerät auch Kapitel 7, indem über die Frage nach Wegen und Straßen resümiert wird. H. Haarmann setzt sich hier vor allem mit den unterschiedlichen Funktionen dieser Wegesysteme auseinander und unterteilt sie gemäß den in der Antike vorherrschenden Prioritäten u. a. in Handelsstraßen, Prozessionsstraßen, Heerstraßen etc. Neben dem Transportwesen hat das Rad bekanntlich auch sogenannte sekundäre Innovationen maßgeblich beeinflusst, die ebenfalls etwas kurz in Kapitel 8 abgehandelt werden. Hierunter zählen neben fahrbaren Maschinen im weitesten Sinne, wie etwa dem Rammbock in der Kriegstechnik, nicht zuletzt auch weitere Anwendungen in Form der archimedischen Schraube oder von Zahnrädern etc. (S. 153–168). Den Abschluss des Buches bilden ein Epilog, der die Bedeutung der Radtechnologie bis zum heutigen digitalen Zeitalter (S. 171–172) Revue passieren lässt, ein Literaturverzeichnis (S. 173–185) und ein Register (S. 186–191).
Mit seinem Band gelingt H. Haarmann ein knapp abgefasster und gut lesbarer Überblick über die wichtigsten archäologischen und inschriftlichen Quellen, die derzeit für die Frage der Erfindung des Rades und des entsprechenden Ideentransfers diskutiert werden. Beachtlich ist dabei auch die sehr breit angelegte Recherche, die somit einen guten und schnellen sowie umfassenden Einstieg in die Thematik erlaubt. Trotz der bemerkenswerten Materialfülle bleibt Haarmann beachtlich konzis, wenngleich man sich gerade bei einigen der in der Forschung durchaus kontrovers angesehenen Funde (etwa Felsbilder) eine etwas kritischer geführte Diskussion gewünscht hätte. Der interessierte Leser, der die im Text spärlich eingesetzten Literaturzitate weiterverfolgen möchte, wird zudem an einigen Stellen auf Probleme stoßen: Einige der Verweise finden sich leider nicht im Literaturverzeichnis aufgeführt (z. B. Videjko 2008). Hier hätte man sich etwas mehr Genauigkeit im Umgang mit den Quellen erhofft.

04.06.2023
Robert Kuhn
Die Erfindung des Rades. Als die Weltgeschichte ins Rollen kam. Haarmann, Harald. 191 S. 43 meist fb. Abb. und 2 Karten. Gb. 21,5 x 14,1 cm. Gb. C.H. Beck Verlag, MĂĽnchen 2023. EUR 20,00.
ISBN 978-3-406-79727-9   [C. H. Beck]
 
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